piwik no script img

Anstößige historische Meilensteine

■ Das bemerkenswerte Lebenswerk des Bremers Arno Peters ist jetzt in einer Neuauflage erschienen: Sein SynchronOptischer Weltatlas hat alle Qualitäten, die Geschenke für moderne Menschen haben sollten

Wir Menschen sind Würstchen in der Weltgeschichte. Ach was, Fliegenschisse höchstens. Ahnungslos noch dazu. Beispiel Eisen. Wer weiß, wo es so was als rostfreies Material zuerst gab?

Dem modernen Menschen mögen da zunächst Mutters neue Bestecke einfallen, damals in den 50ern, Nirosta oder Cromargan. So sind wir: Kreisen um den eigenen Bauchnabel – anstatt wie der Bremer Arno Peters um das Weltgeschehen. Umfassend, analytisch und vollständig. Weswegen sein Lebenswerk, der „SynchronOptische Weltatlas“, sich nicht zu fein ist für rostfreies Eisen. Aufgelistet auf der Zeitachse des Jahres 891 christlicher Zeitrechnung. „Anfertigung in Indien.“

In jahrelanger Feinarbeit hat der Bremer „Polygraph“ – der übrigens auch den ersten kartographisch exakten Weltatlas entwickelte – seine Weltbetrachtung in ein neues Sys-tem gefasst. Zwei weltweit wohl einzigartige Brocken geschichtlichen Wissens hat er mit der Hilfe von 53 gelehrten Geistern, darunter Werner Heisenberg und Otto Hahn, zusammengeschmolzen in einen „Indexband“ und einen „Zeitatlas“. Darin erscheinen die Meilensteine des Weltgeschehens auf fast DIN A 3-Format zeitlich beisammen gruppiert, im Indexband werden sie erläutert. Beide Bände sind beim Verlag Zweitausendeins neuerdings zum sensationellen Preis von nur 99 Mark zu haben. Doch der eigentliche Clou ist das Werk selbst – von dem in seiner früheren, teuren Variante bisher 250.000 Exemplare weltweit verkauft wurden.

Vier Kilo schwer, in rotem Leineneinband, füllt die Neuausgabe auf einer farbigen Zeitleiste die Wissenslücken der europäischen Durchschnittsmenschen, deren Kenntnisse oft bei den alten Römern, allenfalls den antiken Griechen enden – ohne dass sie auch nur ahnten, dass sie damit Opfer Hegel'schen Geschichtsverständnisses wurden, wonach nur die Völker Europas eine Geschichte haben, während der Rest der Welt in ewigem Stillstand verharrt.

Arno Peters hat sich darüber schon geärgert, als er zwischen den beiden, würde er wohl sagen „Weltkriegen“?!, des letzten Jahrhunderts sein Geschichtsstudim aufnahm. Seitdem will er die Enge historischer Überlieferung überwinden, die auf die Blütezeit Europas während der letzten 500 Jahre zumeist so fixiert ist, dass darüber die übrigen 4.500 Jahre Weltgeschichte samt 25 außereuropäischen Kulturblüten verschwinden. Von der martialischen Tradition, Epochen vor allem mächtigen Kriegsherren zuzuordnen, nimmt er zugleich deutlich Abstand. Zum Beispiel – mit der Zahnbürste.

Seit 1749 putzen sich die EuropäerInnen mit einem Bürstchen das Kauwerk, erfahren wir bei Peters. Auch der Umkehrschluss macht schlau: Dann wird der Kriegsherr und König von Preußen, Friedrich der Zweite, wohl lange mit ungeputztem Gebiss die Parade abgenommen haben. Erstaunlich, zumal schon 1554 vor der christlichen Zeitrechnung das Gehirn entdeckt wurde – bei einer Schädeloperation in Ägypten. Während das beginnende Zeitalter des rostfreien indischen Stahls in die Lebenszeit der italienischen Politikerin Marozia fällt. Sie „beherrschte wie ihre Mutter Theodora die römische Staats- und Kirchenpolitik“, vermerkt der Atlas – und dass sie mit „unsittlichem Lebenswandel“ den päpstlichen Stuhl derart unter ihren Einfluss brachte, dass noch Sohn und Enkel Päpste wurden, derweil ihre russische Zeitgenossin Olga, Herrscherin über das Reich von Kiew, gerade erst mit dem christlichen Glauben in Berührung kam – kurz nachdem die Spinatpflanze aus Arabien nach Europa gelangte übrigens, aber noch bevor das mehrstimmige Singen in Mitteleuropa aufkam.

Auch für niedersächsische LokalpatriotInnen hält der Atlas zig Jahre später einen kleinen Hinweis parat: Der Mönch Widukind von Corvey aus dem gleichnamigen Kloster, geriet über den Aufstieg des Sachsenkaisers Otto 1. so in Verzücken, „dass er seine Heiligengeschichten beiseite schob und sich ganz der geschichtlichen Würdigung des sächsischen Volkes widmete.“

Dieser Hinweis war es wohl nicht, der den Bremer Bildungsenator Dehnkamp 1953 veranlasste, in öffentlich angeschaffte Exemplare des Atlas' ein eigenes Vorwort einzukleben – in dem er erläuterte, dass er bestimmte Eintragungen nicht unkenntlich machen wolle. Er habe „zu den Lehrern das Vertrauen, dass sie solche Stellen auch ohne besonderen Hinweis erkennen“, schrieb der Senator. Zugleich nannte er die Werke Peters' „unverzichtbar“ für Bibliotheken und Lehrerzimmer.

Die letzte Eintragung Peters in der neuen Ausgabe findet sich fürs Jahr 1999: „Angriffskrieg der Nato auf Jugoslawien ohne UN-Zustimmung.“ ede

Arno Peters' SynchronOptische Weltgeschichte in zwei Bänden, erschienen bei Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 2000, erhältlich in 2001-Läden oder über Postversand, Tel.: 069-420 8000-0

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen