Durchgeknallt ins Diesseits

Der Schriftsteller Tobias O. Meißner ist das Gegenmodell zum gemeinen Popliteraten. In seinem Buch „Todestag“ versucht ein junger Mann durch ein Attentat, sich dem schleichenden Kollektivselbstmord der Gattung Mensch entgegenzustemmen

von GERRIT BARTELS

Es ist Freitagnachmittag, kurz nach halb sechs, und schon bei der Begrüßung vor der Eingangstür des Cafés Milagro in Kreuzberg fragt Tobias O. Meißner, ob man denn die Geschichte mit Helmut Kohl verfolgt habe. Kohl war am Abend vorher in Berlin bei einer Lesung aus seinem Tagebuch mit einem Kaffeestückchen beworfen worden, und Meißner findet das auch einen Tag später noch ziemlich lustig: „Das habe ich mit großer Freude gesehen, besonders dass es ausgerechnet ein Windbeutel war.“

Der 33-jährige Berliner Schriftsteller kommt natürlich nicht ohne Grund auf dieses kleine Attentat auf Helmut Kohl zu sprechen – geht es doch in seinem neuen Buch, „Todestag“, um ein Attentat, ein fiktives zwar, allerdings ein tödliches. Dieses verübt ein junger Schriftsteller mit dem sinnfälligen Namen Kain Zwaifel, der bei einer Wahlkundgebung in Berlin aus der Menge heraus vier Schüsse auf den Bundeskanzler abfeuert. Anschließend lässt er sich widerstandslos festnehmen.

Meißner schildert nun in „Todestag“ die Vernehmung Zwaifels durch einen Ermittler, einen Psychologen und einen so genannten Agenten. Als Motive gibt er den Krieg der Nato gegen Serbien an, den „Turbokapitalismus“, die „Trägheit der Masse“ die „Korruptheit der Politiker“ und dergleichen mehr. Meißner beschließt das Buch mit einer Art Dokumentation von Zwaifels Schriften: einem Flugblatt zum Ersten Mai, einem Liebesbrief und einer abgewandelten Kurzgeschichte über Kain und Abel.

„Todestag“ ist eher ein Filmskript als ein Roman – der Verlag nennt es einen „Verhörroman“. Und es liest sich, als würde man einem einigermaßen intelligenten, nüchternen Kneipengespräch folgen: Rede folgt auf Widerrede, Argument auf Gegenargument. Zuweilen ist man geneigt, eine Aussage des Ermittlers auch gegen das Buch anzuführen: „Das meiste von dem, was sie heute hier gesagt haben, klingt wie ein Klischee.“

Das aber stört Tobias O. Meißner wenig. Gelassen rührt er Milch und Zucker in seinen Tee und sorgt sich wegen des Lärmpegels im Café um die Leistungsstärke des Aufnahmegeräts. Ihm sei bewusst, sagt er dann, mit „Todestag“ keine stilistische Meisterleistung vollbracht zu haben: „Doch darum geht es auch gar nicht. Ich hätte ja die Möglichkeit gehabt, jemanden zu erfinden, der ungeheuer abstrakt reden kann, doch ich wollte es nicht verfremden oder überhöhen, sondern mit einer einfachen Sprache möglichst realistisch halten. Mir geht es darum, den Leser wegen Kain Zwaifel und dessen durchaus streitbaren Thesen mit einem unbehaglichen Gefühl zurückzulassen.“

Am Ende sind die Verhörer ratlos: Was tun mit so einem, der glaubt, sich „dem schleichenden Kollektivselbstmord der Gattung Mensch entgegenstemmen“ zu müssen, und sich einbildet, mit der Ermordung des Bundeskanzlers Lawinen ins Rollen zu bringen? Ein Spinner ist Zwaifel nicht, kein Psychopath und auch keiner revolutionären Gruppierung angehörig. Ganz sicher aber ist Zwaifel eine typische Meißner-Figur, die man auch auch aus seinen beiden vorherigen Büchern, „Halbengel“ und „Starfish Rules“, kennt. Ein eigenbrötlerischer, eigenartiger, hartnäckiger Außenseiter und Querkopf, in dem man nicht zuletzt auch Charakterzüge vor allem des Schriftstellers Meißner wiederfindet. Der kreist nämlich selbst eher von außen um den Literaturbetrieb, der stellt mit seinem unglamourösen Auftreten (Schlabberpullis, ausgewaschene graue Jeans, Pferdeschwanz) und einem nicht anders als besessen zu nennenden Schreibprogramm ein Gegenmodell zum hippen Jungliteraten und gefälligen Popschreiber dar.

Tobias O. Meißner wurde vor fünf Jahren zwar mit seinem ersten Buch, „Starfish Rules“ – einem manisch und chaotisch wirkenden, aber genaustens durchkonsturierten Trash- und Splatterbuch –, als „Szeneheld“ und „Kultautor“ gefeiert. Doch schon mit seinem zweiten, „Halbengel“, einem Roman über Aufstieg und Fall eines Rockmusikers, bekam er Probleme. Es wurde von seinem damaligem Verlag erst abgelehnt und dann, zwei Jahre später, doch angenommen: Meißner hatte einen Agenten eingeschaltet, der den Text erneut anbot und bei Rotbuch auf einen neuen Lektor traf.

Zudem bemühte er sich jahrelang vergebens, einen Verlag für sein anderes, zugegebenermaßen gigantisches Buchprojekt mit dem Titel „Hiobs Spiel“ zu finden, mit dem er, wie er in einem früheren Interview sagte, „die kommenden fünfzig Jahre schriftstellerisch begleiten will“.

Redet man mit Meißner über seine Erfahrungen mit den Verlagen, kann er sich, der mit seinem weichen Engelsgesicht und auch sonst eher zurückhaltend und unscheinbar wirkt, ganz schnell in Rage reden: über den corporate rock des Literaturbetriebs, über die deutsche Mainstreamliteratur. Ganz konsterniert stellt er dann fest, dass Deutschland vor allem eins habe: „gute Lektoren, gute Agenten, aber nicht unbedingt gute, junge Schriftsteller, deren Bücher sich doch irgendwie alle gleichen“. Und fügt dann im Hinblick auf die Idee zu „Todestag“ an: „Neues deutsches Fräuleinwunder, Popliteratur, das haut mich alles nicht so um. Bis 1999 dachte ich, Oberflächenphänomene sind eben spannend. Aber nach dem Kosovokrieg und der Spendenaffäre müssten ja selbst die Popliteraten auf die Idee kommen, mal was über Politik zu machen.“

Meißner sagt, und da stützt er sich ganz fest mit seiner rechten Hand auf der Tischkante ab, er habe seinerzeit das Gefühl gehabt, „nach Strich und Faden verarscht zu werden“, und sich dann an die Arbeit von „Todestag“ gemacht – „einfach eine Art Themensammlung“, „eine Reaktion“, „mein Beitrag, damit es später nicht heißt, ich hätte wie alle anderen auch geschwiegen“.

Immerhin fand dann der Eichborn Verlag nicht nur das Konzept zu „Todestag“ interessant, sondern sicherte sich auch die nächsten beiden, schon fertigen Bücher von Meißner: „Neverwake“, einen Science-Fiction-Roman, und eben auch den ersten Teil des besagten „Hiobs Spiel“, den Meißner als „noch durchgeknallter und surrealistischer als ‚Starfish Rules‘ “ bezeichnet.

Da hat er fast ein schlechtes Gewissen, wenn man ihn darauf anspricht, dass es in seiner Klappentext-Bio immer noch heißt: „wechselweise Tätigkeit als Fabrikarbeiter und Schriftsteller“, und er zugibt, tatsächlich ausschließlich von den Verlagsvorschüssen gelebt zu haben.

Doch letzlich gehört das Kokettieren mit der Fabrikarbeit genauso zum „Gesamtkonzept Meißner“ (O-Ton Meißner) wie die Wohnortbezeichnung „Nordneukölln“ (aus dem Klappentext), wo Meißner seit Jahren in einer parterre gelegenen 1-Zimmer-Hinterhauswohnung lebt und schreibt, viel schreibt – wie das 2.000-Seiten-Buch, mit dem er sich das Schreiben beigebracht hat. Wie den zweiten Band von „Hiobs Spiel“, der ebenfalls fertig ist, den sein Verlag auch haben wollte, den er aber zurückhält: „Wer weiß, was das Lektorat damit anstellt, am Ende ist das nicht mehr mein Buch.“

Denn Meißner mag besessen vom Schreiben sein und ein wenig größenwahnsinnig, aber er ist auch ein rational denkender und handelnder Kontrollfreak. Einer, der jeden seiner Sätze gegen einen Lektor verteidigt. Der darüber nachdenkt, ob er es sich überhaupt leisten kann, mit seiner Freundin ein Kind zu haben. Der sein Scheitern immer mit einkalkuliert und darüber räsoniert, mit seinem Magister in Publizistik und Filmwissenschaften etwas anderes machen zu müssen, als Bücher zu schreiben.

Von den von ihm geschätzten 3.000 bis 5.000 abgesetzten Exemplaren seiner ersten beiden Bücher kann er jedenfalls nicht leben – und wohl auch nicht von „Todestag“. Auf die Frage, wie das Buch denn laufe, antwortet er in der ihm eigenen Mischung aus Einsicht und Wahn: „Gar nicht. Zu meiner großen Überraschung. Eigentlich hatte ich gedacht, damit eine Debatte im Feuilleton anzustoßen.“

So richtig bekümmert ist er jedoch nicht, er kennt schließlich die Regeln des Geschäfts. Nächstes Jahr im Frühjahr ist wieder Saison, da gibt es ein neues Buch von ihm, und überhaupt, das erwähnt Meißner eher beiläufig am Ende des Gesprächs, „liegt da bei Eichborn noch ein anderes fertiges Buch von mir, das ganz weit jenseits von allem ist, was man zurzeit in Deutschland lesen kann“.

Tobias O. Meißner: „Todestag“. Eichborn, Berlin 2000, 162 Seiten, 32 DM