: Die Normierungswut und die Geschichte
Der Streit um die Rechtschreibreform spaltet nach den Medien jetzt auch die Wissenschaft: Liegen die neuen Regeln etwa gar auf der Linie einer nationalsozialistischen Leitkultur? Eine Studie legt dies nahe. Die Ergebnisse und Folgerungen allerdings sind eher mit Vorsicht zu genießen
von GERD SIMON
Schon seit dem 19. Jahrhundert werden Kommissionen eingesetzt, die die Orthografie vereinfachen sollen. 1996 brachte bekanntlich zum zweiten Mal nach 1901 eine solche Kommission ihre Vorschläge über die politischen Hürden: Die Rechtschreibreform wurde beschlossen. Der Widerstand gegen sie ist vorwiegend in den Medien immer noch überraschend groß. In dieser nervösen Lage könnte es von Belang sein, wenn die neuen Regeln weitgehend identisch sind mit solchen, die entsprechende Kommissionen im Auftrag des NS-Regimes entwickelten. Es setzt sie auf den ersten Blick in ein fragwürdiges Licht.
Dieser Umstand ist der Ausgangspunkt der gerade erschienenen Studie der Sprachwissenschaftler Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner: „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus“. Auf Grund umfangreicher Archivstudien und mit Blick auf zum Teil entlegene Publikationen zur Vorgeschichte der Rechtschreibreform vor allem im „Dritten Reich“ erheben die Autoren ihre Vorwürfe gegen die jüngste Kommission: Sie sei der Frage „beharrlich ausgewichen“, wie es zu erklären sei, dass ihre Ergebnisse sich so wenig von den Vorschlägen unterscheiden, die entsprechende Kommissionen zuerst 1933/34 sowie dann wieder in den Jahren von 1941 bis 1944 vorlegten und bis zur Entscheidungsreife vorantrieben.
Lange Zeit hatte es den Anschein, als handele es sich beim Rechtschreibstreit um eine Auseinandersetzung zwischen den Sprachwissenschaftlern, die die Reform durchsetzten, und einigen Journalisten und Dichtern, die sich gegen die Reform empörten. Inzwischen gehen die Fronten quer durch beide Lager. Dass auch die Wissenschaftler in der Einschätzung der neuen Rechtschreibung uneins sind, zeigt diese Studie.
Sosehr diese Arbeit höheren wissenschaftsgeschichtlichen Ansprüchen genügt, ist doch einiges an ihr auszusetzen. Zu wenig kommt heraus, dass die historischen Kontinuitäten nicht im „Dritten Reich“ Halt machen, sondern sogar weit in die Zeit vor 1933 zurückreichen. Bei Birken-Bertsch und Markner wird allerdings irreführend die neue Rechtschreibreform so dargestellt, als bewege sie sich in der Tradition einer nationalsozialistischen Leitkultur. Darüber hinaus ist der Hinweis auf die Vergangenheit allein noch kein hinreichendes Argument gegen irgendetwas. Der Umstand, dass etwa Manfred von Ardenne, der wichtige Erfindungen zur Weiterentwicklung des Fernsehens machte, sowohl in den Hitlerfaschismus als auch in den DDR-Kommunismus verwickelt war, spricht an sich noch nicht gegen das Fernsehen.
Die wenigen systematisch argumentierenden Hinweise, die Birken-Bertsch und Markner zur Stützung ihrer traditionalistischen Auffassung geben, fallen dagegen weit zurück hinter die, welche seit langem bekannt sind, vertreten etwa durch den Sprachwissenschaftler Georg Schmidt-Rohr. Dieser freilich war als Leiter einer SS-Forschungsabteilung kaum weniger in das NS-Machtgefüge verwickelt als irgendein Kommissionsmitglied im „Dritten Reich“.
Zudem sehen die Autoren nicht den Kompromisscharakter der Reformvorschläge zwischen den Vertretern eines Traditionalismus und den so genannten Phonetikern, denen im Wesentlichen eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Laut und Buchstabe vorschwebte. Die Kommission wird in der Studie mit den Phonetikern ohne Diskussion in einen Topf geworfen.
Meine Hauptkritik aber trifft nicht nur diese Veröffentlichung zum Thema Rechtschreibung, sondern auch die allermeisten übrigen: Zu kritisieren ist ihr Marginalienfetischismus. Nebensächlichkeiten werden zu einer weltbewegenden Hauptsache aufgemotzt. Die Rechtschreibreform von 1901 aber war ein typisches Kind der wilhelminischen Ära mit ihrer Normierungswut. Sollte es nicht aber an der Zeit sein, auch in Sachen Rechtschreibung in das Akzeptieren von abweichendem Verhalten einzuüben?
Aus einem bestimmten Grund könnte diese Studie dennoch zu begrüßen sein. Der Streit in der Sprachwissenschaft könnte die wenn auch ungewollte Wirkung haben, dass mehr Toleranz und Liberalität in Sachen Rechtschreibung ins Land zieht, dass der Beitrag zur Verständigung über schriftliche Kommunikation nicht mehr einseitig zu Lasten des Schreibers geht. Jegliche Normierung könnte fragwürdig werden. Langfristig verspreche ich mir jedenfalls von dieser Wirkung insbesondere eine höhere Bereitschaft bei den Lesern, abweichende Schreibungen zu akzeptieren. Die Orthografie sollte nicht länger in den Unternehmen und Behörden als Grundlage von Bewertungen dienen können. Es wäre nur wichtig, dass in Wissenschaft und Dichtung, in den Medien und in der Bevölkerung diese neuen Freiheiten aktiver verteidigt werden. Nicht nur Günter Grass, auch Liebhaber des Dichters Ernst Jandl sollten in Zukunft so schreiben dürfen, wie es aus ihrer Sicht der Verständigung dient.
Hanno Birken-Bertsch, Reinhard Markner: „Rechtschreibreform und Nationalsozialismus“. Wallstein Verlag, Göttingen 2000, 134 Seiten, 29 DMGerd Simon lehrt germanistische Linguistik an der Universität Tübingen
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