: Miesmuscheln an Pornotapete
In der Galerie Zagreus gibt es Kunst und Essen. Muscheln in Weißweinsoße sind das Begleitprogramm zu einer Tapete aus unzähligen Sexbildchen. Dem Galeristen geht es um die „Psychologisierung des Raumes“. Die Gäste trinken levitiertes Wasser
von KIRSTEN KÜPPERS
Manches könnte man auch einfacher sagen. Aber ohne Houllebecque’sches Vokabular geht wohl heute in der Kunstwelt nichts mehr: „Das Massenornament ist ästhetischer Reflex auf die vom herrschenden Wirtschaftssystem geforderte Rationalität. Die im Massenornament eingesetzte menschliche Figur ist partikularisiertes, entsolidarisiertes Elementarteilchen, dessen Wert sich über Verfügbarkeit und mithin über Austauschbares bestimmt.“ Das ist die Beschreibung zu einer Pornotapete. Sie hängt in der Galerie „Zagreus“ in Mitte. Mit unendlich vielen zerschnipselten Sexbildchen hat der Künstler Michael Walter die Tapete bedruckt. Einzelne Körperteile sind kaum erkennbar, zusammen ergeben die Ausschnitte indes ein graues abstraktes Tapetenmuster. Die Installation heißt „Akkumulation“. Dazu läuft elegante Klaviermusik in einer Endlosschlaufe.
Mit seiner Tapete möchte Michael Walter auf den Warencharakter von Sexualität hinweisen. Sex sei ja als Pornografie wie im Supermarkt verfügbar – das habe auch soziale Auswirkungen auf den einzelnen, erklärt er. Wenn Michael Walter nicht als Künstler arbeitet, verkauft er Anzüge in einer Herrenboutique. Er hat sanfte Augen, ist schwarz gekleidet und wirkt nervös.
Doch der Wandschmuck ist nur Teil der Performance in der Galerie. In der Mitte des Raumes steht am Dienstagabend noch ein langer vergoldeter Tisch. Hier serviert der Galerist Ulrich Krauss dem Vernissagenpublikum große Schüsseln mit Muscheln in Weißweinsoße, eine blonde Frau verteilt Servietten.
Denn „Zagreus“ ist eine Mischung aus Galerie und gastronomischer Einrichtung. Zu allen Ausstellungen kocht Ulrich Krauss ein Menü, das zum Kunstwerk passt. Zu einem Hirsch-Objekt aus PVC-Folie verarbeitete Weiss etwa einmal ein ganzes Reh zu Rehrücken, Rehsuppe, Rehkeule und Rehwurst. Ein anderes Mal aßen sich zwei Männer durch einen riesigen Brotlaib, und eine nackte Frau zog sich ein Kleid aus Teig an.
Das könnte eine neue Erlebnis-Gaststätte sein. Wer in der Galerie mitessen will, kann sich einen Stuhl an der Tafel mieten, ein viergängiges Menü kostet 55 Mark. Aber Krauss sagt, die Kunst sei hier durchaus mehr als nur Dekoration. Ihm gehe es um die „Psychologisierung des Raumes“. Und bisher habe sich noch jeder Besucher nach einer Speise-Performance verändert.
Heute ist der Bezug zwischen Muscheln auf den Tellern und Vaginas auf der Tapete freilich etwas billig geraten. Aber das ist gut für die Stimmung. Die Gäste trinken tschechisches Bier und freuen sich, sozialer Bestandteil von Pornokunst zu sein. Freunde des Künstlers unterhalten sich darüber, wie stressig das Ausdrucken der Tapete war. Andere reden über Goethe-Institute. Am Ende schenkt eine Frau noch „levitiertes“ Wasser aus. Durch „Levitieren“ würde das Wasser seine „natürlichen Eigenschaften“ zurückgewinnen. Ein Gast fragt, ob das „törnt“.
ZAGREUS, Schröderstraße 13, 10115 Berlin-Mitte, Tel. 28 09 56 40
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen