: Ohne Moorhuhn
Marx Attrax und die Folgen: Auf der Frankfurter Allee haben sich temporäre Kunst- und Medienräume angesiedelt. Freitag gibt es „Schaufenster-Soap“
von JANA SITTNICK
Die Frankfurter Allee ist Pop. Hier stehen Läden leer, die keine neuen Mieter finden und sich zwischenzeitlich in subkulturelle Räume verwandeln. Die Frankfurter Allee ist bizarr. Die klotzigen Stalinbauten aus den Fünfzigerjahren mit ihren im Zuckerbäckerstil verniedlichten Fassaden erinnern an den Esprit der Arbeiter-und-Bauern-Diktatur.
Läuft man an den „Palästen für das Volk“ entlang, die eine sechsspurige Fahrbahn vom Strausberger Platz bis zum Frankfurter Tor säumen, fühlt man sich jedoch schnell verloren in der Tristesse zonale. Dann ist es gut, ein Ziel vor Augen zu haben. Wie die Kinder der Partykultur, die mit ihrem Spektakel „Marx Attrax“ im Juni die öde Allee vier Tage lang in eine Meile mit mobilen Bars, temporären Gärten, Galerien und schmuddeligen Lounges verwandelten.
Einige der kurzzeitigen Läden, wie der „Jeans Club“ und die „Fleischerei“, verlängerten ihr Provisorium. Vor zwei Monaten feierte der Jeans Club zwar seine letzte Party, bevor er wegen Lärmproblemen schließen musste. Betreiberin Christiane Löhr ließ sich jedoch nicht davon abhalten, schräg gegenüber die „maou maou gallery“ zu eröffnen. Mit ihrer vierten Ausstellung, „Lametta Inn“, präsentiert sie in vorweihnachtlicher Gemütlichkeit die Arbeiten ihrer Freunde: Evelins „Fucky“-Figuren kann man bei ihr kaufen, Arbeiten von Lilian Mousli, Jim Avignon und Françoise Cactus. Löhr, die die Größe des „Boulevards“ schätzt, „bei dem man mal alles umdrehen und den Verkehr nur für Fußgänger zulassen müsste“, um zu sehen, dass er doch schön ist, will bleiben. Auch in der „Fleischerei“ klingen die Weihnachtsglocken. Merle Vorwald und Anja Rode gestalteten den Laden als „Zauberwald“. Dort, wo Schweine geschlachtet wurden, hängen jetzt die Modelle junger Berliner Modedesigner von der Zimmerdecke, und Schweizer Künstler lassen Rehe aus Styropor durch die Wand steigen.
Die Frankfurter Allee zieht Firmen mit einer Büroästhetik jenseits von Grünpflanzen, Weißwänden und Moorhuhn an. In „Prenzlow Männermoden“, einem Herrenausstatter, dessen beigebrauner Schriftzug auf dem Baldachin geblieben ist, sitzt seit vier Monaten die „Filmlounge“, eine „krossmediale Produktionsfirma“. Von der Straße aus ist der Arbeitsraum durch riesige Schaufenster sichtbar. Man sieht mit rotem Velours ausgeschlagene Fensterbänke, eine alte Couch und Tische mit Rechnern, von denen Kabel wirr herabhängen.
Davor sitzen junge Menschen und arbeiten hart am Gefühl. Die „Filmlounge“ rekrutiert sich aus acht Mitarbeitern, von denen keiner über dreißig ist. Der jüngste, OJ, ist zwanzig und arbeitete an der australischen Pepsi-Internet-Werbekampagne, bevor er nach Berlin-Friedrichshain kam. Die „Filmlounge“ entwickelt, betreut und produziert Web-Animationen, Kurzfilme, Musikvideos und „emotionale“ Internetauftritte. „Wir erzählen Geschichten im Netz“, sagt Florian Giefer, 26, Creative Director und Firmengründer. Er glaubt, dass in der Vermittlung von Inhalten über Bilder die Zukunft der globalen Kommunikation liegt. Langweilige Websites, die nur mit Fakten dienen, gebe es genug. „Will man heute im Netz gesehen werden, muss man unterhalten. Und das geht mit einer guten Geschichte, nicht mit purer Information.“ Wenn ein Gurkenfabrikant zu ihm käme, würde Giefer ihm keine Homepage mit Firmenprofil bauen, sondern eine virtuelle Gurke animieren, die spricht und Abenteuer erlebt.
Am Wochenende wollen sich die Medienarbeiter im Selbstexperiment siebenundvierzig Stunden am Stück in ihrer „Filmlounge“ aufhalten und „Deutschlands erste Schaufenster-Soap“ inszenieren. Dann wird sich zeigen, ob nicht nur Fans und Freunde, sondern auch die Passanten auf der Frankfurter Allee die Macht der Bilder anerkennen.
Die Aktion „Schaufensterfamilie“ läuft in der „Filmlounge“, Frankfurter Allee 12, von Freitag, 22 Uhr, bis Sonntag,10 Uhr; „Zauberwald“ in der „Fleischerei“ (Nr. 2) ist bis zum 22. 12. täglichvon 15 bis 22 Uhr geöffnet, „Lametta Inn“ in der „maou maou gallery“ (Nr. 23) täglich von 17 bis 22 Uhr.
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