Das Schwarzbuch der Liebe

Immer mehr Paare trennen sich. Doch in der Liebe geht es zwischen Männern und Frauen nicht um Gleichheit, sondern mehr um die Frage, wer wen am meisten braucht

Je öffentlicher der Diskurs über Liebe als Markt ist, desto unveränderbarer scheinen die Demütigungen

Liebe macht blind. Hass auch.

Es verändert die Wahrnehmung, wenn man verlassen wird. Unterhaltspflichtige geschiedene Ehemänner haben oft das Gefühl, zu verarmen, auch wenn die Exfrau nur wenig oder gar kein Geld von ihrem Ehemaligen bekommt. Das ergab eine Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums.

Wer sich gekränkt fühlt, hat das Gefühl, draufzuzahlen. Geld und Sex spielen im Geschlechterkampf zwar vordergründig die wichtigsten Rollen – noch bedeutsamer aber sind die Gefühle von Demütigung oder Stolz, für deren Verteilung noch keine politische Sprache existiert. Wie Individuen ihre Chancen auf eine neue Liebe einschätzen und wie sie Trennungen erleben, bestimmt ihr Selbstvertrauen und ihre Hoffnungen. Denn gelungene Partnerschaften zählen laut Forschung zu den wichtigsten Glücksfaktoren.

Dieses Glück ist ein flüchtiger Besitz geworden. Immer mehr Menschen gehen nacheinander neue Partnerschaften ein und leben in „serieller Monogamie“. Damit bekommt die Verteilung von Beziehungschancen und -risiken eine neue Dimension. Laut der jüngsten Statistik (1998) liegt die Scheidungsquote bei 36 Prozent; 1970 hatte sie im Westen nur 15 Prozent betragen. Rund 60 Prozent der Geschiedenen wenden sich anschließend neuen Partnern zu. Da die Menschen heute länger leben, steigt die Wahrscheinlichkeit, im Leben mehrmals den Partner zu wechseln.

Wenn das biografische Risiko – und die Freiheit – aber zunehmen, mehrmals im Leben Trennung und Neuanfang, Liebe und Hass zu erfahren, dann werden neue Statusfragen gestellt. Der wichtigste Besitz der Macht, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, bestünde nicht mehr in Unterdrückung und Kontrolle, sondern in der „Vermeidung“, dem „Ausweichen und Entkommen“. Übertragen auf die Geschlechterverhältnisse bedeutet dies: Wer sich entziehen kann, wer Optionen hat und einen neuen Partner wählen kann, der hat die Macht. Weniger der Kampf um Gleichheit innerhalb der Partnerschaft bestimmt das neue Verhältnis der Geschlechter, sondern mehr die Frage, wer wen am meisten braucht. Wer kann sich noch neu binden, wer nicht?

Der französische Erfolgsautor Michel Houellebecq behauptet, dass die Partnersuche nur noch durch einfache Marktgesetze bestimmt wird: Wer nicht schön und jung ist oder – unter den Männern – nicht wenigstens beruflich erfolgreich, hat wenig Chancen auf sexuelle Zuwendung und Selbstbestätigung. Ältere Frauen erscheinen bei Houellebecq als gedemütigte Opfer dieses Liebesmarktes.

Damit liegt er im Trend, Liebe nur noch als Marktsystem zu definieren. Erst kürzlich wurden im Wochenmagazin Focus wieder Soziologen mit der angeblich wissenschaftlichen Erkenntnis zitiert, dass Männer mit besserer Ausbildung und höherem Einkommen die schöneren und im Zweifelsfall auch jüngeren Frauen bekämen.

Endlos wird die angeblich evolutionspsychologisch bedingte „Prostitutionsthese“ nachgebetet, dass Frauen bei Männern materielle Sicherheit suchen, Männer aber Frauen vor allem nach körperlicher Attraktivität und Jugend beurteilen.

Empirisch ist zwar nachweisbar, dass Männer sich meist schneller als Frauen nach einer Trennung wieder binden. Auch steigt der Altersabstand der PartnerInnen mit dem Alter der Männer. Aber mehr als 40 Prozent der Männer im Alter von 45 bis 50 Jahren, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben, haben eine Geliebte aus der gleichen oder gar höheren Altersgruppe. Doch die immer gleichen Bilder von prominenten Mittfünfzigern mit ihren 30-jährigen Drittfrauen – den 50-jährigen Witwen von morgen – fördern ein Rollenbild: Wer hohen sozialen Status hat, wechselt die Ehefrau nach dem „Modell Jahreswagen“. Die Partnerin aus Altersgründen fallen zu lassen ist die ultimative Demütigung, das düsterste Kapitel im „Schwarzbuch der Liebe“. Doch wer sich moralisch darüber empört, setzt sich nur dem Verdacht aus, zur Gruppe der Verliererinnen zu gehören.

Glaubt man der These von einer Art neoliberalem Markt der Liebe, stehen jedoch auch die Männer unter Stress. Nicht nur, dass arbeitslose Männer überproportional häufig ledig sind – für Männer, deren Frauen sich einem anderen Partner zugewandt und das gemeinsame Kind mitgenommen haben, bricht oft eine Welt zusammen. Das Gefühl der Kastration stellt sich dreifach ein: durch den Partnerwechsel der Frau, die Mitnahme des Kindes und die Tatsache, dass die Unterhaltsverpflichtung des Geschiedenen mitunter lebenslang besteht. Damit sei es fast unmöglich geworden, noch mal als Alleinernährer eine Familie zu gründen, klagen verlassene Väter.

Neu sind all diese Erkenntnisse nicht, neu ist aber der öffentliche Diskurs in Talkshows, Boulevardpresse, Magazinartikeln und Literatur über „Liebe als Markt“. Zygmunt Bauman beklagt die Veröffentlichung des Privaten, da sie keineswegs Aussicht auf „kollektive“, also politische Mittel biete, mit denen sich das Unbehagen daran auflösen ließe. Im Gegenteil: Je öffentlicher der Diskurs über „Liebe als Markt“ geführt wird, desto unveränderbarer, geradezu naturgegeben erscheinen die Demütigungen und Ungleichheiten. Doch das muss nicht so bleiben.

Es ist zu erwarten, dass sich die Beteiligten und die Benachteiligten wehren. Eine neue Politik der Liebe wird darin bestehen, neue Optionen auf Intimität und Bindung zu schaffen, die nicht mehr ausgrenzen. Diese Politik des Privaten wird dabei nicht von organisierten Gruppen oder Gleichstellungsgesetzen, sondern von Rollenvorbildern und neuen Subkulturen getragen.

Wenn prominente ältere Frauen wie Madonna oder Tina Turner mit erheblich jüngeren Männern herumziehen, ist das auch ein politischer Akt (deswegen folgen auch meist gehässige Bemerkungen, die solche Männer als „Muttersöhnchen“ abqualifizieren). Auch wenn deutsche Frauen sich auf Jamaika einen Reisebegleiter und Sexpartner kaufen, kann das ein momentaner Akt der Befreiung sein.

Eine Politik der neuen Optionen geht einher mit einem erweiterten Verständnis von Intimität. Emotionale Ansprüche, die heute vor allem auf der Zweierpartnerschaft ruhen, werden künftig vielleicht wieder mehr auf andere Beziehungsformen übertragen. Nötig ist eine „Familiarisierung von Freundschaften“. In einer mobilen Gesellschaft wird die Dauer von Beziehungen mehr zählen als räumliche Nähe. Vielleicht werden sich auch neue Single-Subkulturen etwa unter älteren Frauen oder unter jüngeren Männern entwickeln. In anderen, etwa arabischen Ländern sind die Welten von Männern und Frauen ohnehin stärker getrennt, die Homoerotik spielt eine große Rolle.

Wer nicht jung und schön ist oder wenigstens erfolgreich, hat wenig Chancen auf sexuelle Zuwendung

Es ist heute schon eine Alltagserfahrung unter Freundinnen, dass man zwar gerne über Männer redet und von ihnen träumt, aber in der Wirklichkeit gar nicht so viel Zeit mit ihnen verbringen möchte. Und was wird aus der Familie? Die örtlich verstreute Mehrgenerationenfamilie, bestehend aus Großeltern, Enkeln, aber auch Tanten und Neffen, spielt für das Gefühl von innerer Bindung in der Welt nach wie vor eine herausragende Rolle, hat der Mikrosoziologe Hans Bertram nachgewiesen.

Langzeitpartnerschaften erlangen möglicherweise neuen Kultstatus. Das sexuelle Geheimnis langjähriger Partnerschaften, vermutet der Sexualforscher Volkmar Sigusch, bestehe darin, dass beide Partner unbewusst besondere Vorlieben teilten, „etwa eine bestimmte sexuelle Spielart, den Geruch oder die Form der Nasenflügel“. Wer einen Partner findet, dessen Exzentrizität zur eigenen passt, der ähnlich „schief“ in der Welt steckt wie man selbst, der hat Glück gehabt.

Moralische Appelle gegen den Diskurs von „Liebe als Markt“ jedenfalls helfen nichts. Schließlich tragen die Individuen die Stammtischthesen weiter, unter denen sie selbst leiden. Eher ist die Erwartung berechtigt, dass der Diskurs von selbst bröckelt und bricht – an seinem eigenen Paradoxon. Denn die These von der „Liebe als Marktvorgang“ als eine Art wechselseitiger Ausbeutung krankt darin, dass sie ihren Gegenstand entromantisiert und damit zu vernichten droht.

Die Bindungen und Begegnungen von Personen, mit all ihren Unberechenbarkeiten und Überraschungen, gelten nach wie vor als letzte Zufluchten vor den Märkten, als rettende Möglichkeit, sich die Einzigartigkeit bestätigen zu lassen (VerführerInnen haben das begriffen). Vielleicht entsteht aus der gegenwärtigen, ermüdenden Marktwertdiskussion daher am Ende sogar etwas Neues: Räume für eine Resolidarisierung der Geschlechter – für das Leben und gegen die Ödnis der Märkte.

BARBARA DRIBBUSCH