: Grass von Rot-Grün enttäuscht
Nobelpreisträger kritisiert „inhumane“ Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und sieht keinen Unterschied zwischen SPD-Innenminister Schily und CDU-Amtsvorgänger Kanther
GÖTTINGEN taz ■ Literaturnobelpreisträger Günter Grass ist gestern mit der Flüchtlingspolitik der rot-grünen Bundesregierung scharf ins Gericht gegangen. Der Schriftsteller sagte in Göttingen, er könne bei der Politik gegenüber Verfolgten keinen Unterschied zwischen dem jetzigen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und dessen Amtsvorgänger Manfred Kanther (CDU) feststellen. Bei der Vorstellung seines neuen Buches „Ohne Stimme – Reden zu Gunsten der Roma und Sinti“ klagte Grass vor allem die unveränderte Praxis der Abschiebehaft als „inhuman“ an.
Aufgrund der Erfahrungen, die Schily als Anwalt in RAF-Prozessen mit Verfolgten gemacht habe, sollte man erwarten, dass sich seine Politk von der Kanthers unterscheidet, sagte Grass. Doch diesen Unterschied vermisse er. Bei Amtsantritt von Rot-Grün sei seine Hoffnung groß gewesen, dass diese zumindest die inhumane Abschiebehaft beenden werde. Permanent würden aber weiterhin „4.000 Menschen, die nichts getan haben, in dieser Haft sitzen“.
Inhaftierungen von verfolgten Menschen, die man auch mit einem neudeutschen Wort als „Schüblinge“ bezeichne, seien weiter oft Nacht-und-Nebel-Aktionen, die eine unselige Tradition in Deutschland hätten. Dabei würden auch Familien auseinander gerissen. Grass konstatierte, die inhumane Behandlung von Flüchtlingen bereite dem Rassismus in Deutschland den Boden. Es wundere ihn nicht, wenn Rechtsradikale sich am inhumanen Verhalten der verantwortlichen Innenminister ein Beispiel nähmen und zuschlügen.
Grass gestand Schily allerdings zu, dass sich dieser in seinen Äußerungen nicht durch unterschwelligen Rassismus auszeichne. Vor allem Politiker der Union würden erst gegen Fremdenfeindlichkeit reden und dann Kampagnen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft oder gegen Einwanderung organisieren. „Was nützt das Verbot der NPD, wenn gleichzeitig von rechtskonservativen Kreisen die Fremdenfeindlichkeit unterschwellig gefördert wird?“, fragte der Nobelpreisträger. Zu den Kampagnen von verantwortungslosen Politikern, die Fremdenfeindlichkeit anheizten, zählte er auch „die unselige Debatte über die deutsche Leitkultur“. Die deutsche Kultur sei dort, wo sie stark sei, eine Mischkultur, die Kultureinflüsse aus ganz Europa aufgenommen habe.
Grass wollte gestern Abend in Göttingen die erste Kerze bei einer der Mahnwachen anzünden, die die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in achtzig deutschen Städten vorbereitet. Die Mahnwachen sollen unter dem Motto stehen „Ein Licht für Verfolgte in Deutschland! Gegen Rassismus – Flüchtlinge schützen!“. Die Innenminister und die Ausländer- und Sozialbehörden würden dem Rassismus in Deutschland Vorschub leisten, „indem sie die Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse machen“, begründete GfbV-Vorsitzender Tilman Zülch die Aktion.
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