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Das neue Tempo: Berlin dreht auf

Die gemütlichen Zeiten sind vorbei: Seit die Regierung angekommen, Hertha aufgestiegen und die Depression verflogen ist, tickt die Stadt einfach schneller – auch jenseits der Hektik der Vorweihnachtszeit

von RALPH BOLLMANN

Es ist wie immer, und doch ist alles anders. Über die Hektik zum Jahresende wussten die Zeitungen am Wochenende viel zu berichten: 180.000 genervte Kunden drängelten sich allein im KaDeWe auf der Suche nach dem schnellen Schnäppchen; Tausende gehetzter VerkäuferInnen legten Sonderschichten ein; der Bundeskanzler traf mitten im Rentenstress eine Eilentscheidung - und schenkte seiner Weihnachtsgans das Leben.

Kurzum: Wie jedes Jahr? Nicht ganz. Früher war der leichte Anflug von Geschäftigkeit, der die träge Großstadt in den Vorweihnachtswochen ein klein wenig auf Trab brachte, ein völliger Ausnahmezustand. Das hat sich geändert: Würden die Einzelhändler nicht mit ihren Umsatzzahlen prahlen, würde die erhöhte Taktfrequenz kaum noch auffallen. Seit die Regierung angekommen, Hertha aufgestiegen und die Depression verflogen ist, tickt die Stadt als Ganzes einfach schneller – auch jenseits von Weihnachtszeit und Einkaufsstraßen.

Langsame Massen

Noch vor kurzem war das völlig anders. Wer in frühen Neunzigern aus der westlichen Hochgeschwindigkeitsgesellschaft ins gemächliche Berlin wechselte, der strampelte sich fortan vergebens ab – umgeben von einer gummiartigen Masse aus Langsamkeit. Während es in der westdeutschen Provinz selbst so genannte „Bummelzüge“ auf bis zu 120 Stundenkilometer brachten, verkehrten an der Spree Bahnen und Busse im Schneckentempo. Nahm die Beantragung eines neuen Personalausweises auf den schnöden „Ordnungsamt“ einer schwäbischen Kommune im schlimmsten Fall eine Viertelstunde in Anspruch, ließ die Berliner Behörde mit dem pompösen Namen „Landeseinwohneramt“ den Neuankömmling stundenlang warten. Wer in den Ostteil der Stadt zog, der musste sogar auf den bequemen Griff zum heimischen Fernsprecher verzichten. Stattdessen galt es, vor der nächsten Telefonzelle Schlange zu stehen.

Neue Zeitzone

Solche messbaren Äußerlichkeiten waren Symptome für ein viel tiefer liegendes Phänomen – für das völlig andere Zeitgefühl, das in der geteilten Stadt herrschte. Sowohl im sozialistischen Osten als auch im wirtschaftlich abgeschnittenen Westen war jahrzehntelang fast niemand in der Lage, seine Zeit in Geld umzusetzen. Folglich kam es auf Zeitersparnis nicht sonderlich an.

Wer auf einer der ohnehin dünn gesäten Rolltreppen allzu rasch nach oben strebte, galt den eingefleischten Berlinern bislang als unangenehmer Drängler – ja geradezu als Chaot, der sich nicht in Reih und Glied einzuordnen wusste. „Rechts stehen, links gehen“: das Prinzip, das andernorts für ein effizientes Zeitmanagement im U-Bahn-Schacht sorgt, war an der Spree nahezu unbekannt. Langsam beginnt es sich durchzusetzen – ein Zeichen, dass die Hauptstadt langsam in eine andere Zeitzone hinübergleitet.

Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine hat versucht, das unterschiedliche Zeitgefühl in verschiedenen Ländern mit der Stoppuhr einzufangen. Das – wenig überraschende – Ergebnis: Die Industriestaaten leben in einem schnelleren Rhythmus als weniger entwickelte Gesellschaften, und in den wirtschaftlichen Zentren ist das Tempo höher als an der Peripherie.

Kein Wunder also, dass Berlin schneller wird, seit die Stadt aus ihrer Randlage wieder ins Zentrum gerückt ist. Vor hundert Jahren, als die Reichshauptstadt gerade zur wirklichen Metropole herangewachsen war, war das Berliner Tempo geradezu legendär. Hier rauchten die Arbeiter und Angestellten der modernen Wirtschaftszweige schon hektisch eine Zigarette nach der anderen, während die Honoratioren in der deutschen Provinz noch gemütlich an ihrer Pfeife schmauchten.

Alte Mythen

In der Weimarer Zeit besaß Berlin das modernste Nahverkehrssystem der Welt. Genauso schnell wie die modernen S-Bahnen raste allerdings die Inflation, und labile Koalitionsregierungen wechselten sich ebenfalls in rascher Folge ab. Nicht wenige Zivilisationskritiker glaubten, da bestehe ein Zusammenhang: Für viele Konservative verkörperte die Großstadt Berlin alle Übel einer Epoche, die durch Nervosität und Reizbarkeit gekennzeichnet schien.

An den Mythos der rasenden Metropole suchten die Berliner Verkehrsbetriebe anzuknüpfen, die in den frühen Neunzigern behaupteten, sie offerierten „schnelle Verbindungen für eine schnelle Stadt“. Da lag die rasante Geschwindigkeit schon ein halbes Jahrhundert zurück. Ganz falsch war der Slogan dennoch nicht: Das Tempo der Busse und Bahnen entsprach dem Tempo der Stadt – und das konnte niemand als langsam empfinden, so lange es keinen Vergleichsmaßstab gab. Als sich das Berliner Leben im weiteren Verlauf der Neunziger allmählich beschleunigte, zogen die Werbestrategen den Spruch schnell aus dem Verkehr.

Seither mühen sich die Verkehrsbetriebe redlich, den Abstand zumindest nicht weiter zu vergrößern. Die Ostberliner Straßenbahn, mit einem Durchschnittstempo von 17 Kilometern je Stunde einst die langsamste in ganz Deutschland, soll jetzt auf 21 Kilometer beschleunigt werden. Die gemächlich zuckelnden Doppeldecker-Busse werden allmählich durch flache Modelle mit höherem Tempo ersetzt. Und auf den alten U-Bahn-Strecken legen sich die Züge heute quietschend in frisch sanierte Kurven, die sie früher nur mit Schrittgeschwindigkeit passieren konnten.

Genaue Uhrzeiten

Auch bei der Genauigkeit der öffentlichen Uhren, die den Zeitforschern als untrügliches Zeichen für das lokale Lebenstempo gilt, hat Berlin in den letzten Jahren stark aufgeholt. Die Zeit, die auf Straßen und Plätzen angezeigt wurde, war einst wenig verlässlich: Die Schwankungen der Stromfrequenz, die schon in der „Hauptstadt der DDR“ für eine notorische Fehlanzeige gesorgt hatten, schwappten nach der Verbindung der Stromnetze auch in den Westteil der Stadt über. Mittlerweile haben die Elektrizitätswerke das Problem im Griff.

Angesichts der neuen Zeitnot schwindet bei den Berlinern die Neigung, sich den Tagesablauf vom Rhythmus des Kohleofens diktieren zu lassen. Morgens erst aus dem Haus zu gehen, wenn die Kacheln mollig warm und sämtliche Klappen geschlossen sind; abends heimkehren zu müssen, bevor die Glut erloschen ist – das können und wollen sich immer weniger Mieter leisten. Lieber zahlen sie ein paar Mark mehr für eine zeitsparende Zentralheizung.

Manche Phänome aus der Zeit, als Zeit noch keine Rolle spielte, kann sich heute kaum noch jemand vorstellen. Im Ostteil der Stadt war bis vor wenigen Jahren eine Erfindung kaum verbreitet, die das Verhältnis von Raum und Zeit revolutioniert hat wie kaum eine andere: das Telefon. Wer Freunden etwas mitzuteilen hatte, musste sich persönlich in deren Wohnung bemühen. Waren sie nicht zu Hause, gab es nur zwei Möglichkeiten: Man konnte warten, oder man konnte auf einem eigens angebrachten Notizblock eine Nachricht hinterlassen.

Schneller Kaffee

Auch im Westteil der Stadt ging es gemütlicher zu als heute. Die durchschnittliche Studiendauer, an den Westberliner Hochschulen einst die längste in ganz Deutschland, ist deutlich zurückgegangen. Statt den ganzen Tag in gemütlichen Cafés zu verbringen, begibt sich der aufstrebende Nachwuchs heute in „Coffee Shops“ nach amerikanischem Vorbild, wo das Trinken einer Tasse Kaffee nicht länger dauert als unbedingt nötig.

Sogar die Beamten können sich dem neuen Tempo nicht gänzlich verweigern. So hat sich die durchschnittliche Bearbeitungszeit für Steuererklärungen zwischen 1995 und 1999 von 68 auf 40 Tage verkürzt, trotz – oder vielleicht gerade wegen – eines drastischen Personalabbaus in der Verwaltung.

Studenten hin, Beamte her: Insgesamt haben die Berliner wenig Anlass, dem langsamen Tempo hinterherzutrauern. Anders als in südlichen Gefilden war es in Berlin nur wenigen gelungen, die geringe Geschwindigkeit in eine erhöhte Lebensqualität umschlagen zu lassen – im Gegenteil: Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten in Berlin sogar häufiger auf als in Regionen mit weit höherem Lebenstempo. Fast unbekannt war hier jene Fähigkeit, die viele Amerikaner an den Europäern am meisten bewundern – einerseits hocheffizient wirtschafen, andererseits die Früchte dieser Arbeit in vollen Zügen genießen zu können. In Berlin schienen Arbeits- und Genussfreude gleichermaßen unbekannt.

Beständiger Stau

Bleibt nur noch eine bange Frage: Wie weit wird sich die Beschleunigung, die Berlin vom Kohleofen direkt ins Internetzeitalter katapultiert hat, noch treiben lassen? Doch keine Angst: Es ist die dialektische Ironie der Geschichte, dass jeder Beschleunigung bereits der Keim der Verlangsamung innewohnt – und da braucht es auch keine von oben verordnete „Entschleunigung“.

Die ersten Anzeichen dafür lassen sich rund ums Brandenburger Tor bereits beobachten. Der Verkehrsstau, in den gemütlichen Zeiten des alten Berlin ein beinahe unbekanntes Phänomen, ist dort bereits Alltag. Gelingt der deutschen Hauptstadt der Anschluss an die hektischen Metropolen Westeuropas, dann werden die Berliner ihre gewonnene Zeit ebenso verbringen wie die Leidensgenossen in London oder Paris: in der Autoschlange.

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