: Streit um Calhans ärztliches Gutachten
Expertisen sollen helfen, den abgeschobenen Friedens-preisträger Hüseyin Calhan wieder zurückzubringen
AACHEN taz ■ Hüseyin Calhan wurde auf der Grundlage eines fehlerhaften und unbegründeten ärztlichen Gutachtens in die Türkei abgeschoben. Zu diesem Schluss kommen die Kieler Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Helga Spranger, und der Aachener Psychologe Thomas Auchter. Nun fordern Vertreter Aachener Initiativen, den früheren Sprecher des nordrhein-westfälischen Wanderkirchenasyls zurück in die Bundesrepublik zu holen.
Der Träger des Aachener Friedenspreises war am 31. 10. abgeschoben worden, nachdem ihm der Amtsarzt und Leiter des Gesundheitsamtes Paderborn, Peter Eicker, Reisetauglichkeit bescheinigt hatte. Das Düsseldorfer Verwaltungsgericht sah in Eicker als „Arzt mit Psychatrieerfahrung“ einen ausreichend kompetenten Ersatz für den vom Gericht ursprünglich angeordneten Facharzt für Psychiatrie.
Genau diese Qualifikation sprechen allerdings Spranger und Auchter ihrem Kollegen in zwei unabhängig voneinander erstellten Expertisen ab. Eickers Ausführungen seien „aus fachärztlicher Sicht nicht verwertbar“ und müssten „für den fachpsychiatrisch-fachpsychotherapeutischen Bereich abgelehnt werden“, kritisiert Helga Spranger. Die Mitbegründerin der Bundesarbeitsgemeinschaft „Traumatisierte Kriegskinder“ wirft Eicker „mangelhafte Untersuchungsmethoden“ vor und attestiert: „Der Gutachter hat sich über sich selbst und über sein ärztliches Wissen geirrt.“ Sie mahnt: „Ärzte dürfen keine Handlanger der Politik werden.“
Thomas Auchter, der als Lehrtherapeut am Ausbildungsinstitut der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf tätig ist, urteilt, der Paderborner Allgemeinmediziner besitze „keinerlei ausbildungsmäßig erworbene psychiatrische oder psychotherapeutische Fachqualifikation“.
Eicker hatte in seinem Gutachten unter anderem festgestellt, Calhan sei Schläge „seit seiner Schulzeit gewohnt gewesen, mit denen ist er quasi aufgewachsen“. Der Werdegang und das Verhalten des Kurden zeigten, „dass er darunter nie nachträglich gelitten hat“. Fünf Gutachten, die Calhan eine posttraumatische Störung und Suizidgefährdung bescheinigten, qualifizierte er mit der Bemerkung ab, sie sprächen für sich und seien „ärztlich nicht als objektiv abgefasst zu werten“. Für Auchter ein „unbegründetes Werturteil“, das „diffamierend“ sei.
Schon Mitte November hatte der Leiter der Psychiatrischen Tagesklinik in Herford, Dr. Wolf Müller, in einem Schreiben an das Verwaltungsgericht Düsseldorf festgestellt, dass Eicker nur über „ungenügende Kenntnisse“ verfüge und seine Untersuchung Calhans „inkompetent“ gewesen sei. Sein Gutachten sei passagenweise „völlig irrig“ und zeuge in der Wortwahl „stellenweise von unbewusster Abwehr“ gegenüber dem Patienten. Eicker lehnt es ab, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Mit Journalisten rede er nicht mehr.
Seit eineinhalb Monaten lebt Calhan nun wieder in der Türkei. In wechselnden Hotels Istanbuls untergebracht, sei der 28-Jährige „psychisch völlig unten“, berichtet Andrea Genten, die Flüchtlingsbeauftragte im Bistum Aachen. Zudem lebe er in „ständiger Angst vor Inhaftierung“. Zusammen mit Andreas Diefenbach vom Aachener Friedenspreis, dem Ausländerreferenten der Evangelischen Studentengemeinde, Johannes Kube, und Markus Reissen, Fachteamleiter der Sozial- und Migrationsberatung der evangelischen Gemeinde in Düren, verlangt sie, Calhan umgehend in die Bundesrepublik zurückkehren zu lassen. Das Verwaltungsgericht müsse die Rechtsgültigkeit ihres Abschiebeurteils überprüfen, da es auf falschen Voraussetzungen beruhe. Gegen Peter Eicker müsse zudem ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden. Auch den nordrhein-westfälischen Landtag beschäftigt erneut der „Fall Calhan“. Die Vizevorsitzende des Petitionsausschusses, Brigitte Hermann, will wissen, über welche „berufsständisch anerkannte fachärztliche Ausbildung“ Eicker verfüge. PASCAL BEUCKER
MICHAEL KLARMANN
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