: Unbekannte Wunder des Alltags
■ Die Galerie für Gegenwartskunst im Ostertor-Viertel zeigt zwei Fotoserien mit ausgesprochen viel Haarpracht von der Film-, Foto- und Installationskünstlerin Tamara Grcic
Kinder. Herlinde Koelbl hat sie einst abgebildet im Leid, aber auch im Glück ihrer gesellschaftlichen Zurichtung. Von den Eltern in biedere Karoröcke, putzige Rüschchenblusen, zünftige Lederhos'n oder strenge Anzüge gesteckt, blitzt aus ihren Augen mal Skepsis, mal Unsicherheit, mal Freude über die gewichtige, glänzende Rolle, die ihnen da aufgebürdet wird.
Die 1964 in München geborene Tamara Grcic dagegen sucht in der Kindheit das, was der Erwachsenenwelt abhanden gekommen ist: zum Beispiel freudiges Staunen. Und das Angenehme an Kindern ist, dass sie für den Ausbruch aus dem Alltagsknast keinen Ferrari, steigenden Aktienkurs oder Extremsport brauchen; ein Trampolin tut's auch. Mitten im Aufsteigen oder mitten im Fallen hat Grcic circa achtjährige Kids mit ihrer Kamera abgefangen, die Haare chaotisch-naturverweht, die Augen mal so mal so, in sich gekehrt, schreckhaft aufgerissen oder nach außen leuchtend. Dieses kleine-feine bisschen Befreiung von der Erdenschwerkraft scheint für diese Lebensanfänger das Versprechen zu sein für eine ganz andere ungeahnte zukünftige Befreiung. Das Trampolin, das man auf den Bildern niemals sieht, muss auf einem eher hässlichen Spielplatz in einer eher hässlichen Wohngegend stehen. Denn die Umgebung, die sich unscharf im Hintergrund abzeichnet, hat nichts Jugendkultiges an sich: immer wieder der berühmte Maschendrahtzaun, ein gelber Pfosten, Gebüsch, Gebüsch, Gebüsch statt Graffitis, Halfpipes und Baseballkappis. Peppige Form meidet Grcic wie die Pest.
Diese Serie mit erlösten Kindergesichtern ist brandneu. Bekannt geworden ist Grcic mit Fotos und Installationen von Obst: ein Meer von 700 spanischen Honigmelonen in einer Galerie, die Beobachtung von Birnen oder Gerberas beim tagtäglichen Verfall, Fotos von Händen, welche die Ware von Obstständen erbarmungslos angrapschen, zwicken und prüfen. Später interessierte sie sich für das unbarmherzige Zustechen einer Nähmaschinennadel, für serielle Krankenbahren, Plastiktüten. Dann war der Mensch fällig: die Wiederspiegelung des Auf-und-Abs des Atmens am entfernten Schlüsselbeinknochen oder die verpustelte Berglandschaft eines faltenwerfenden Wollpullovers an einer dicken Person.
Bei der Galeristin Claasen-Schmal sind jene kaum mehr als postkartengroße Hinterkopfbilder zu sehen, die schon in der Kunsthalle St. Gallen und 1997 im Bonner Kunstverein zusammen mit realer Damenoberbekleidung unter dem bezeichnendem Motto „Duchamps Urenkel“ ausgestellt waren. Diese Halsbilder zeigen genau jenen Ausschnitt des Mitmenschen, der Benutzern öffentlicher Verkehrsmittel in Stoßzeiten nur allzu bekannt sein sollte – aber nicht ist, weil er durch unser Aufmerksamkeitsraster gnadenlos hindurchplumpst. Es ist eine Rückenansicht aus nächster Nähe, nämlich jene Stelle, wo das Haupthaar sich seinen mühseligen Weg über den Mantel-, Jacken-, Hemdkragen sucht. Und die Personen, die Grcic dabei wählte, sind gewiss keine Benutzer von 3-Wetter-Taft, denn ihr Haar fließt nicht füllig und geordnet nach den Vorschriften einer Standardfrisur. Dünne Haarsträhnen entscheiden sich eigenmächtig für Kurvenwege, von denen ihr Besitzer wohl nicht den Hauch einer Ahnung haben.
Als dritte Arbeit ist ein etwa zehnminütiges Videoporträt einer jungen Roma-Frau in Deutschland zu sehen. Diese entzückt durch die selbstbewusste Art, mit der sie über Autos, Männer, Geschäftemachen, Arbeitsverweigerung et cetera redet. Andererseits wirkt ihre penetrante Schwärmerei für ihren Schrott-BMW eklig kleinbürgerlich und dumpfbackig. Den kleinen „Hm's“ und „Ach,ja's“ der unsichtbaren Interviewerin ist zu entnehmen, dass auch hier Tamara Grcic ganz einfach die Wirklichkeit in all ihren schäbig-spannenden Verwerfungen und Strähnen abbilden wollte, ohne eigenbmächtig zu steuern. Der Mensch als Readymade, wie es sich für eine Enkelin Duchamps gehört. bk
Bleicherstr. 55, bis 13.1., Di-Fr 14-18 Uhr, Sa 12-14 Uhr, Tel.: 70 21 39
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen