: Auf Wissensbühnen
Lasst uns Ordnungsschneisen schlagen: Castorf prallt bei einer FU-Ringvorlesung mit Theaterdenkern zusammen
Sinnliche Wahrnehmung ist trügerisch und will betrogen werden. Dies hat Menschen nicht daran gehindert, über den Augen-schein hinauszudenken und zugleich angespornt, erfinderisch und effektiv die Sinne der anderen zu manipulieren. Helmar Schramm, Theaterwissenschaftsprofessor an der FU, hat im Zusammenhang von Wahrnehmung, Wissen und dessen Repräsentationen die Wirksamkeit des Theaters als historisches Denkmodell einer nicht nur ästhetischen, sondern auch kulturell prägenden Metapher ausgemacht. Die Welt tut so „als ob“ – und in luziden Momenten erkennen und nutzen wir ihr Spiel.
„Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst“ lautet der Titel einer Ringvorlesung, die Schramm an der FU in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, dem Zentrum für Literaturforschung und dem Helmholtz-Institut für Kulturtechnik organisiert. Wo sonst Theoretiker aller Couleur auftreten, tauchte am Donnerstag Volksbühnenintendant Frank Castorf auf, als einziger Gast aus der Theaterpraxis. Gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp und dem Kulturwissenschaftler Peter Matussek sollte über visuelle Strategien und Gedächtnistheater diskutiert werden.
Bredekamp, der gemeinsam mit dem Mathematiker Jochen Brüning die Ausstellung „Theatrum Naturae et Artis“ im Martin-Gropius-Bau konzipierte, hat in Gottfried Wilhelm Leibniz einen frühen Event-Strategen ausgemacht. Der Beste-aller-Welten-Philosoph träumte die Utopie eines produktiven Gedächtnistheaters, die Gleichzeitigkeit von Zurschaustellung, Archivierung und forscherischer Entwicklung. Denn da Natur per definitionem in Bewegung sei, müsse auch jede Einsicht über ihr Wesen prozesshaft abgebildet werden.
Die These, dass jede Abstraktion eine konkrete Rückbindung braucht, verfolgt Matussek mit Blick auf die neuen Medien. Digitale Benutzeroberflächen inszenierten hochkomplexe Datenflüsse in genialer Vereinfachung als überschaubaren Desktop; im Design mancher Internet-Portale glaubt der Kulturwissenschaftler Analogien zum „Erinnerungstheater“ des Renaissance-Gelehrten Giulio Camillo feststellen zu können. Ob im 16. oder 21. Jahrhundert: Bezogen auf Wissen und Gedächtnis verfolgen theatrale Repräsentationsstrategien den Zweck, Ordnungsschneisen zu schlagen.
Gegen diese frohe Botschaft prallte nun Frank Castorf. Ja, das Theater als Kunstform und politische Praxis müsse zwar das Enzyklopädische übersetzen in einen Schockmoment, dabei aber Wissenskonventionen und politische Denkmuster mit ihrem Gegenteil konfrontieren und in Frage stellen – notfalls mit der Darstellung des Nichts und der koketten Konsequenz, dass das Theater sich selbst auslöscht.
An die mal resignierte, mal hysterische Klage des Regisseurs über das Schwinden politischen Bewusstseins zugunsten einer Geschäfts- und Beschleunigungseuphorie, an deren Ende die Austauschbarkeit des Individuums winke, knüpften die Theoretiker nur schüchtern an, auch wenn Bredekamp eine „hochgradig politische“ Ambivalenz des IT-Booms diagnostizierte: radikale Kommunikationsfreiheit auf der einen, permanenter Bürgerkrieg der User auf der anderen Seite. Immerhin stand am Ende ein schön dialektischer Theaterbegriff, der Widerstand und Stabilisierung, Revolution und Evolution gleichermaßen fasste. Wenn das mal kein Denkmodell ist! EVA BEHRENDT
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