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Selbsthilfe zum Heiligen Abend

An Weihnachten beruhigen viele gern ihr Gewissen und spenden für die Hungernden der Welt. Diese Mildtätigkeit verkommt zu einem Business, von dem nur wenige profitieren

77 Prozent des Viehfutters in der EU stammen aus der Dritten Welt. Das sind Lebensmittel, die dort fehlen

„Die Bibel sagt: Geben ist seliger als nehmen. Wir sagen: Greifen Sie trotzdem zu.“ Diese Premiere-World-Werbung gibt die weihnachtliche Stimmung in Deutschland zutreffend wieder. Es geht nicht um Nächstenliebe, sondern um das nächste Geschenk. Und dieses Schenken hat weniger mit Geben als mit Zwang und Stress zu tun.

In der Presse ist zu lesen, dass Psychologen mit Rat und Tat bereitstehen. Nach jahrelangen Forschungen sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass man sich für die Geschenksuche viel Zeit nehmen soll, um nur ein Geschenk pro Tag zu kaufen und die Stoßzeiten zu vermeiden. Vor allem raten sie, frühzeitig mit den Einkäufen zu beginnen.

Aber da brauchen sich die Psychologen keine Sorgen zu machen. Der ganze Rummel beginnt doch schon im September. Die Läden sind voller Lebkuchen und Walnüsse, Kerzen und Kugeln. Trotz der Tatsache, dass 2,8 Millionen der Haushalte überschuldet sind, ist das ganze Volk unterwegs zwischen Karstadt und Peek & Cloppenburg, Media Markt und Pro Markt. Sogar der Sanitärprofi K & M in Lünen steht bereit mit der Empfehlung: „Weihnachtsfest steht vor der Tür, kommt, lasst es fröhlich ein, für Ihre alte Spüle soll es das letzte sein!“ Dem Familienblatt Sonntagskurier kann man entnehmen, dass Saskia aus Hamm, heiß und begierig, auch spezielle Weihnachtsangebote hat. Ohne Aufpreis bietet sie den gestressten Herren „Erotische Obst- und Sahnespiele“ an. Wer unter weihnachtlichem „Stangenfieber“ leidet, dem wird empfohlen sich sofort von Babsie behandeln zu lassen.

Schlagartig ist am 24. Dezember dann alles anders. Die Geschäfte sind geschlossen und die Straßen leer. Der Stress verlagert sich in die Familie. Geschenke einpacken (hoffentlich gefällt ihm das), den Weihnachtsbaum schmücken, das Festmahl vorbereiten. Dann kommen die Stunden der Wahrheit, man muss zusammensitzen und miteinander reden. Kein Fernseher und Handy als Ablenkung. Es ist jedes Jahr deprimierend zu lesen, dass in dieser Zeit die meisten Trennungen stattfinden. Laut dpa haben allein letzte Weihnachten 800 Menschen wegen Scheidungsfragen den Anwaltssuchservice der Bundesrechtsanwaltskammer angerufen.

Da helfen auch keine an Frieden und Versöhnung appellierenden Fernsehansprachen des Bundespräsidenten. Jahr für Jahr, mit fast dem gleichen Wortlaut, predigt er, dass an diesem Tag (aber nur an diesem Tag) die Mitbürger an die sozial Schwachen, Obdachlosen, Arbeitslosen und an die Hungernden in der Dritten Welt denken sollen. Heuchelei pur. Laut Unicef leiden 179 Millionen Kinder unter Hungersnot. Warum wird nicht mit weihnachtlicher Nächstenliebe zu Hause angefangen? Indem zum Beispiel gerechte Preise für Kaffee bezahlt werden. Gerechte Preise – und nicht nur gerechtere Preise im Rahmen von Fair Trade und Trans Fair. Wieso sind Äpfel, die um die Ecke wachsen, teurer als Bananen aus Guatemala? Wieso wird in diesen Tagen nicht klargestellt, dass wir nicht nur ein vegetarisches Tier wie die Kuh zum Kannibalen gemacht haben, sondern auch mit Getreide und Soja aus der Dritten Welt füttern? 77 Prozent des Viehfutters der EU stammen aus der so genannten Dritten Welt. Dies sind Lebensmittel, die die hungernden Völker selbst brauchen könnten. Wir nehmen ihnen Grundnahrungsmittel weg und stecken fünf Mark in die Spendendose, um Hunger zu beseitigen und unser Gewissen zu beruhigen.

In der Weihnachtszeit werden viele Millionen von diversen Hilfswerken gesammelt. Besonders gut haben es Kinderhilfswerke, die Patenschaften vermitteln. Ein armes, hungerndes Kind verkauft sich gut in dieser Jahreszeit. Für 60 Mark im Monat kann man bei der Kindernothilfe Duisburg eine Patenschaft für ein indisches Kind wie Mubarak Ahmad übernehmen. Aus dem Personalbogen erfahren die Paten, dass Mubarak elf Jahre alter Muslim ist und in einem christlichen Wohnheim in Südindien lebt. Sein Vater, ein Gelegenheitskuli in einer Zigarettenfabrik, verdient 16 Mark im Monat. Die Mutter ist zu Hause und kümmert sich um Mubaraks fünf Geschwister. Der Bogen endet mit: „Mubarak ist ein aktives und intelligentes Kind. Er ist daran interessiert, zu lernen. Deshalb braucht das Kind Ihre Hilfe. Bitte helfen Sie ihm.“ Dass in einem Land, wo nur 2,5 Prozent der Bevölkerung Christen sind, ungeschminkt missioniert wird, erfährt man aus dem Projektleiterbericht. Ein Auszug: „Im Rahmen der christlichen Erziehung besuchen unsere Jungen die Gottesdienste der Gemeinde und die Sonntagsschule. Die christlichen Feste feiern wir in unserer Einrichtung. Zu unserer Weihnachtsfeier luden wir die Familien der Jungen ein. Die Kinder führten ein Krippenspiel auf, das den Zuschauern sehr gefiel.“ Was der Spender nicht erfährt: Bis zu 25 Prozent ihres Geldes versickert im Verwaltungsapparat. Festzuhalten bleibt auch, dass hier das einzelne Kind gefördert wird. Dies führt unter Umständen zu Ablehnung, Neid und Isolation unter Gleichaltrigen. Zuwendungen in Form von Kleidung, Spielzeug oder Geld machen es zum Außenseiter. Bleibt die Hilfe irgendwann aus, geht es ihm schlechter als zuvor.

Die Halblinken und Alternativen beruhigen ihre Seelen indes anders. Nachdem die solidarische Hilfe in Form von Kaffeebohnenpflücken im sonnigen Nicaragua out ist, sucht man Partner, die irgendetwas mit Ökologie oder alternativer Technologie zu tun haben. Am besten ein Biogasprojekt in Mali oder ein Solardorf in Indien. Viele meiner ehemaligen StudienkollegInnen in Indien sind im Projektbusiness tätig. Oft fragen sie mich, was zur Zeit im entwicklungspolitischen Bereich in Mode ist. Mein Tipp: Bei der Heinrich-Böll-Stiftung sind es ökologische Agrar- und Frauenprojekte, bei der Konrad-Adenauer Alphabetisierung. Misereor und Brot für die Welt bevorzugen Projekte, wo „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Mittelpunkt steht.

Wer unter weihnachtlichem „Stangenfieber“ leidet, der solle sich von Babsie behandeln lassen

Auch ich betreibe Hilfe zur Selbsthilfe in der Weihnachtszeit. Viele Kirchengruppen und Gemeinden laden mich zu Vorträgen ein, nach dem Motto: Dritte Welt zum Anfassen. Dass ich viel Weißes unter meiner braunen Haut habe, interessiert keinen. Sie glauben auch nicht, dass ich als Inder nicht mit Computern umgehen kann. Meinem Vortrag über mein Land hören sie höflich zu. Aber die Fragen sind immer die gleichen. Warum wir unsere heiligen Kühe nicht schlachten? Meine Antwort ist auch immer die gleiche. Die Kuh ist uns auch wirtschaftlich heilig. Sie arbeitet in den Feldern, gibt Milch und Dung, wird als Baumaterial und Brennstoff benutzt. Sie ist auch Haustier. Würdet ihr euren Dackel schlachten, wenn es hier eine Hungersnot gäbe? Seit kurzem füge ich noch hinzu, dass die Kuh bei uns ein vegetarisches Tier ist.

Letzte Frage: „Was machen Sie am Heiligen Abend?“ Gar nichts. Und das können viele gar nicht verstehen. Aber auch für mich als Nichtgläubigen bleibt der Heilige Abend der schönste Tag des Jahres. Keine Autos, leere Straßen, kein Telefon. Ruhe sanft. ASHWIN RAMAN

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