: Knastrevolte beendet
In der Türkei gab es weitere Tote, als Polizeieinheiten das letzte Gefängnis mit hungerstreikenden Gefangenen unter ihre Kontrolle brachten
ISTANBUL taz ■ Vier Tage nach dem Sturm auf 20 Gefängnisse in der Türkei ist es den verschiedenen Einheiten der Polizei gestern offenbar gelungen, auch die letzten Gefangenen im Istanbuler Ümraniye-Gefängnis zu überwältigen. Am Mittag schossen die Belagerungstruppen CS-Gas in den Teil des Gefängnisses, in dem sich die Häftlinge verbarrikadiert hatten. Danach drückten Bulldozer die Wände ein. Der Nachrichtenkanal n-tv zeigte dann, wie eine Kolonne Krankenwagen auf das Gelände fuhr und Gefangene abtransportiert wurden. Angeblich wurden in Ümraniye vier Gefangene getötet, womit offiziell bei der so genannten Operation zur Rettung des Lebens 24 Gefangene und 2 Soldaten ums Leben kamen.
Landesweit waren Tausende von Soldaten und Polizisten im Einsatz. Allein in Canakkale, wo der Widerstand gestern gebrochen wurde, belagerten 600 Soldaten und 400 Polizisten den Knast. Polizei- und Gendarmerieeinheiten bildeten einen dichten Ring, brachen Löcher in die Mauern und schossen Gasgranaten hinein. Insgesamt wurden nach offiziellen Angaben über 5.000 Gasgranaten verschossen. Angeblich wurden beim Sturm drei Gefangene getötet, davon zwei durch Mitgefangene, als sie sich ergeben wollten.
Diese Angaben gehören zur Propaganda, mit der die Regierung den brutalen Sturm auf die Gefängnisse zu einem humanitären Akt verbrämen will. Doch selbst die offiziellen Zahlen sind verräterisch. Die insgesamt 26 Toten sind 14 mehr als beim letzten großen Hungertreik 1996 – was der Sturm auf die Gefängnisse am 61. Tag des Hungerstreiks angeblich verhindert sollte. Um den Sturm dennoch zu rechtfertigen, behaupten Ministerpräsident Ecevit und Justizminister Türk, die Toten seien Opfer fanatischer Selbstverbrennungen oder gar von Mithäftlingen ermordet worden. Obwohl es gegenwärtig noch schwierig ist, sich ein genaues Bild zu machen – Anwälten und Angehörigen wird der Zugang zu überlebenden Gefangenen verwehrt –, widersprechen Menschenrechtsorganisationen und Anwaltskammer der offiziellen Version. Sie gehen von über 30 toten Gefangenen aus und glauben nicht an Selbstverbrennungen.
Ein Telefonmitschnitt, der den Befehl zu Selbstverbrennungen dokumentieren sollte, stellte sich als suspekt und vermutlich von der Polizei fabriziert heraus. Einige weibliche Gefangene aus Bayrampasa, wo sich 12 Häftlinge verbrannt haben sollen, erklärten nach ihrer Verlegung in ein Istanbuler Gefängnis, die Gefangenen seien durch Sonderkommandos verbrannt worden, nachdem sie bereits überwältigt waren. Der türkische Menschenrechtsverein fordert eine unabhängige Untersuchung und die Teilnahme an der Autopsie der Toten. Nur so könne geklärt werden, wie viele Menschen wie starben. JÜRGEN GOTTSCHLICH
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