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Erlingur, der geile Fossegrimmen

Auch Wassergeister haben Sex. Nicht immer zur Freude der Touristen

von WOLFGANG MÜLLER

Tief im Inneren Islands, hinter den riesigen Gletschern des Vatnajökuls liegt, umgeben von weiten Sandwüsten und Lavafeldern, eine kleine grüne Oase, die den Namen Landmannalaugar trägt. Übersetzt heißt das: heiße Quellen der Männer vom Land. Zu diesen Quellen verirrten sich früher höchstens mal ein paar Schafhirten. Sie rasteten dort und kochten laugakaffi, Heiße-Quellen-Kaffee. Heute fährt hier täglich im Sommer ein Bus aus Reykjavík hin.

Touristen aus dem In- und Ausland stürzen sich ins heiße Wasser und bestaunen die prächtigen Rhyolithberge, die in allen möglichen Farben erstrahlen. In Landmannalaugar gibt es ein kleines Gästehaus und einen Zeltplatz. Manchmal kommt ein Farmer von der Südküste vorbei und verkauft an Camper und Wanderer reyktan silung, selbstgeräucherte Forellen aus den umliegenden klaren, kalten Bergseen.

Der süße Ævar, von dem jetzt die Rede sein wird, stammte aus den Westfjorden und zwar aus der Stadt Ísafjöršur. In Ísafjöršur ist ziemlich viel los, wenn man bedenkt, dass der Ort gerade mal 3.500 Einwohner hat. Aber es ist ja immerhin die Hauptstadt der Westfjorde, und da fahren schon viele Leute vom Land hin, um einzukaufen oder Behördengänge zu erledigen. Ævar Thorgrímsson war ein Popstar, aber bislang eben nur in Ísafjördur und Umgebung, also besonders in Bolungarvík, Súdavík, Sudureyri, Thingeyri und Flateyri. Seine Band bestand aus Katli Eiríkssyni, dem Schlagzeuger, Brynhildur Ólafsdóttir, der Bassistin, und ihm als Songschreiber und Sänger. Schon zweimal hatten sie im Sjallin gespielt, dem angesagtesten Club in Ísafjördur, und auch mal im Eyrin, das war ziemlich erfolgreich. Den meisten Leuten hatte es jedenfalls gut gefallen. Besonders der Song von Inga Svala, dem Mädchen, das trotzig in Wollstrümpfen im Schnee herumhüpft, weil sie endlich ein paar Plateauschuhe – wie all die anderen Mädchen aus ihrer Klasse – haben möchte, kam gut an.

Doch in letzter Zeit waren Ævar irgendwie die Ideen ausgegangen. Und deshalb war er jetzt in Landmannalaugar gelandet. Saß auf den Moospolstern, betrachtete die kahlen gelben, roten und grünen Berge und wartete auf Inspiration. Die Gegend ist nämlich seit jeher im Land bekannt für ihre geistesanregende, musische Kraft. Aber noch war nichts geschehen. Ævars batteriebetriebene Casioorgel lag unbenutzt auf der Kieserde. Ein paar Schritte vom Zeltplatz entfernt dampften die heißen Quellen, in denen gerade eine Busladung fröhlicher holländischer Touristen hockte. Ævar erhob sich von seinem Polster, nahm ein paar Kiesel und warf sie in den kalten Zufluss. Zwei Kragenenten flogen erschreckt auf. An der Badestelle zog gerade einer der Holländer sein buntgemustertes Badelaken von dem schiefen Holzgerüst, auf dem die Kleidung abgelegt werden kann. Auch die anderen Badenden stiegen allmählich aus dem warmen Wasser. Langsam krochen feuchte Nebelschwaden über den schwefelgelben Abhang eines Berges, die sich kurz darauf unseren niederländischen Naturfreunden in gedeckten Ockerfarben präsentierte. Kühler Wind zerrte an den Zelten. Ævar klapperte mit den Zähnen.

Jetzt schien die richtige Zeit gekommen, sich im Wasser aufzuwärmen. Er nahm seine Casio, ging über den Holzsteig, passierte die mittlerweile eingekleidete Truppe und zog sich blitzschnell aus. Dann schwang er sich über das Gerüst und ging ein paar vorsichtige Schritte über die sumpfige Grasdecke, bis er den warmen Bach erreichte. Die einzigen Badegäste waren drei der nur spatzengroßen Odinshühnchen. Leicht wie Korken drehten sie sich in eleganten Kreisen auf der Wasserfläche. Ævar sah an ihrer rotgefärbten Brust, dass sie allesamt Weibchen waren. Die Männchen sind bei diesem Watvogel grau und unauffällig. Mit der hoch gehaltenen Casioorgel in der rechten Hand stieg er vorsichtig in das Wasser, aber die zierlichen Polarvögel hatten überhaupt keine Angst. Direkt vor seinen grünen Augen schwammen sie unbeeindruckt auf dem Wasser umher.

Ævar saß auf den Kieseln im Bachgrund und legte die Orgel dabei auf ein Wollgrasbüschel am Bachufer. Das Wasser reichte ihm gerade so bis an die Brust. Zwischen den Kieseln stiegen blubbernde Bläschen auf. Einige Steinchen waren ziemlich heiß, so dass er ab und zu den Hintern bewegen musste. Er schob sich so näher an den meterhohen Lavastrom heran, der aus unzähligen zersplitterten, pechschwarzen Obsidianen bestand. Darunter sickerte kochend heißes Wasser heraus und mischte sich dampfend mit einem kalten Zufluss, der von der Ebene kam. Von fern hörte Ævar noch das fröhliche Lachen der Touristen aus Holland.

Doch dann wird es plötzlich ganz still, nur ein sirrendes, kaum hörbares Pfeifen schwirrt umher, verdichtet sich allmählich zu einem Wahnsinnsgeigensolo, wie es die Welt noch nicht gehört hat. Es kommt direkt aus dem heißen Zufluss unter dem Lavastrom.

Komisch, Fossegrimmen sind eigentlich nur hinter eiskalten, riesigen Wasserfällen in Norwegen zu finden, denkt Ævar, die wohnen nicht in den warmen, isländischen Quellen. Er kennt die Wassergeister nämlich aus alten norwegischen Erzählungen. Fossegrimmen, das sind männliche Wasserfallnymphen. Bezaubernde, überaus gut aussehende Violinisten, die dafür bekannt sind, durch ihr Geigenspiel selbst einen Dumpfbeutel mit Wurstfingern zum absoluten Musikvirtuosen machen zu können.

Von magischer Hand gelenkt, ergreift Ævar sein Casio und spielt, was das Zeug hält. Unzählige, nie gehörte Melodien entquellen dem Gerät. Die Batterien ächzen unter der Woge der freigesetzten Phantasie. Und Ævar spielt und spielt, bis ihm das Blut aus seinen Fingerspitzen quillt und die Orgel mit einem letzten Mollseufzer in alle Einzelteile zerfällt. Jetzt versteht er, was das bedeutet, wenn jemand behauptet, „ihn habe die Muse geküsst“. Völlig erschöpft schleppt er sich zum Zelt und kriecht auf allen Vieren in den Schlafsack. Er zieht den Reißverschluss ganz hoch, denn heute abend ist es ziemlich kühl hier im Hochland. Doch igitt, was ist das? Eine glitschige, schleimige Masse bewegt sich vom Fußende langsam nach oben und bevor der erschöpfte Ævar entsetzt aus dem Schlafsack herausspringen kann, wird er von zwei nassen, kalten Händen gegriffen und von einem eiskalten Mund geküsst. Eine lederne Zunge wühlt sich wie eine Ringelnatter in seinen Rachen. Es riecht ganz schrecklich nach Entenflott. Und alles klebt voller Algen. „Oh du, mein kleiner Musikus“, stöhnt das unheimliche Wesen und zittert vor Erregung wie eine Alaskapappel im Nordwind, „als ich dich sah, wurde mir ganz kalt!“ Lüstern schmiegt sich das Biest an den armen Jungen.

„Du bist ein Fossegrimmen, nicht wahr?!“ ruft Ævar und wehrt einen zweiten Kuss mit beiden Händen ab. „Natürlich bin ich ein Fossegrimmen, was sonst?“, kuschelt sich das bitterkalte Wesen an den mittlerweile arg abgekühlten Ævar. „. . . und nun erwarte ich die Belohnung für meinen Musikunterricht. Du bist sehr zufrieden gewesen mit meiner Lektion oder etwa nicht?“, grummelt die aufdringliche Bachmuse.

„Gewiss, aber ich bin noch völlig erschöpft, und du bist so furchtbar kalt“, sagt Ævar und schiebt sich dabei ein Stück aus dem Schlafsack: „Wie kommst du überhaupt nach Island?“ – „Mit dem Schiff, getarnt als Klabautermann“, blubbert der Fossegrimen, „von Tromsø in Norwegen.“ Ævar schiebt sich weiter nach oben: „Und was willst du kalter Wasserelf hier, auf unserer schönen Insel?“ – „Ich hatte genug davon, hinter den kalten norwegischen Wasserfällen zu lauern und junge Mädchen mit virtuosem Geigenspiel in den Wahnsinn zu treiben. Seit meinem Coming-out träumte ich davon, in heißen Quellen und kochenden Geysiren zu leben“, gurgelt es wie ein ablaufender Abfluss, „. . . und hier bin ich nun! Du wirst dich schon an mich gewöhnen!“

Ævars Hände werden von den schwimmhautbesetzten Händen des Fossegrimmen sozusagen nach unten geführt. „Autsch, ist das kalt“, schreit der angehende Popstar auf, als sie auf das Riesenrohr des geilen Wassergeistes treffen. Aber wer umgreift auch schon gern ein eisgekühltes Stahlrohr? Fast bleiben Ævars noch warme Hände dran kleben, so kalt ist es. „Das soll also der Dank für meine Mühe sein“, murmelt der Fossegrimmen verärgert und kühlt vor Wut noch mehr aus. Sanft, aber bestimmt schiebt Ævar den schwulen Geist aus seinem Schlafsack: „Heute geht es leider nicht. Komm doch morgen vorbei, wenn ich frisch und ausgeruht bin. Dann können wir es gern treiben bis zum frühen Morgen.“

Der abgetörnte Fossegrimmen ist mittlerweile ganz verstimmt und sehnt sich nach seiner feuchten Obsidianhöhle. Beleidigt schlüpft er aus dem total durchnässten Schlafsack, springt aus dem Zelt und hüpft eilig über das Plateau. Im Mondschein sieht Ævar seine immerhin bezaubernde Figur und einen kurzen Moment auch das Gesicht. Ein zugegebenermaßen ultrahübsches Gesicht.

Am nächsten Tag packt Ævar schnell seine Klamotten zusammen und fährt mit dem Nachmittagsbus nach Reykjavík und von dort nach Hause. In Ísafjördur angekommen, schreibt er den Song „Einsamall madur frá laugum“, was auf deutsch „Der einsame Mann von den warmen Quellen“ heißt, und der gleich nach der Veröffentlichung zum Nummer-eins-Hit in Island wird – drei Monate lang. Und weil er über 5.000 CDs verkauft hat, bekommt Ævar schließlich eine Goldene Schallplatte von der isländischen Schallplattenindustrie.

Es bleibt noch zu erwähnen, dass der schwule Fossegrimmen am nächsten Tag vergeblich das Zelt von Ævar suchte, stinksauer war und einfach in den Schlafsack eines Rucksacktouristen aus Leipzig kroch, der ihn kurzerhand wieder rauswarf.

Seitdem ist er jeden Abend im Sommer auf dem Campingplatz in Landmannalaugur zugange und vergreift sich an hübschen Rucksack- und Erlebnistouristen – oft auch ohne davor gegeigt zu haben. Man sagt zwar, er hätte bei dem einen oder anderen das Coming-out beschleunigt, aber ich persönlich halte das für eine plumpe Ausrede des isländischen Fremdenverkehrsbüros. Eine Straßenumleitung wegen eines Elfenvorkommens zieht halt Touristen ins Land, aber ob der Fossegrimmen Erlingur große Anziehungskraft besitzt, darf wohl sehr bezweifelt werden.

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