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Geburtsort: Zwangsarbeiterlager

Margarita Chernomyrdina kam in einem Lager in der Neuköllner Grenzallee zur Welt. Nach 57 Jahren besucht sie erstmals den Ort ihrer Geburt – auf Einladung des Neuköllner Heimatmuseums. Sie will die Frau wiederfinden, der sie ihr Leben verdankt

von ANDREA DECH

Das Heimatmuseum Neukölln hat sie eingeladen. Deshalb kann Margarita Chernomyrdina, die vor ihrer Hochzeit Titunia hieß, nach 57 Jahren erstmals ihren Geburtsort besuchen. „Am 6. November 1943 kam ich im Lager in der Grenzallee zur Welt“, sagt sie. Ihre Familie war im Jahr zuvor aus Stalingrad nach Deutschland verschleppt worden. Das junge Ehepaar Lidija und Alexej, der Bruder und die Mutter wurden in das Lager in der Grenzallee gebracht. In den benachbarten Kabelwerken mussten sie mit vielen anderen Zwangsarbeitern schuften.

Die meisten Verschleppten aus der Sowjetunion waren Frauen. Unter ihnen war Lidija war eine Ausnahme: Sie gehörte zu dem knappen Drittel der Frauen, die mit ihren Ehemännern nach Deutschland gebracht wurden. „Zwei Wochen vor der Geburt war meine Mutter zu einer leichteren Arbeit eingeteilt worden“, erzählt Margarita Chernomyrdina. „Sie durfte die Baracken putzen und durfte mich dann immer mitnehmen.“ Anders als viele andere Kinder von Zwangsarbeiterinnen wurde Margarita nicht von ihrer Mutter getrennt. Diesem Umstand und der Hilfe einer deutschen Frau verdankt sie vermutlich ihr Leben.

Bis 1942 wurden schwangere Zwangsarbeiterinnen in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Doch als Nazideutschland mit der sich verschlechternden Kriegslage auf jede Arbeitskraft angewiesen war, wurde diese Regelung aufgehoben. Schwangere Zwangsarbeiterinnen mussten ihre Kinder nun in den Lagern zur Welt bringen und schnell wieder „arbeitseinsatzfähig“ werden. Die Aufnahme in deutsche Krankenhäuser war meist nicht gestattet. Die Säuglinge wurden den Müttern oft weggenommen und in so genannte Ausländerkinderpflegestätten untergebracht. Ohne ausreichende Ernährung, Kleidung und Pflege starben dort viele der Säuglinge bald.

Margarita Chernomyrdina hatte Glück. „Sechs Straßenbahnstationen vom Lager in der Grenzallee entfernt wohnte eine Frau Hinz“, erzählt sie weiter. „Ihr Mann, ein Kommunist, und ihr Sohn Hans waren im Krieg und so holte sie sich manchmal meinen Vater und ein paar andere Zwangsarbeiter aus dem Lager als Hilfen in ihrer Landwirtschaft.“ Margarita Chernomyrdina deutet auf ein Foto, das Frau Hinz aufgenommen hat. Es zeigt Margaritas Vater und drei andere Zwangsarbeiter. Auf der Kleidung ist das Abzeichen mit der Kennzeichnung „Ost“ zu sehen, das alle Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion tragen mussten.

„Ich würde Frau Hinz gern wiederfinden. Sie hat uns sehr geholfen.“ Der Mutter habe sie Lebensmittel zugesteckt, weil es im Lager keine besondere Nahrung für Säuglinge gab. Margarita habe sie Kinderkleidung geschenkt. Sie hat sogar beim Fotografen ein Foto von Mutter und Kind machen lassen – ohne das vorgeschriebene Ostarbeiterabzeichen. Das Foto hängt derzeit im Heimatmuseum Neukölln, wo sich eine Ausstellung über Geburten in Neukölln auch mit dem Schicksal von Zwangsarbeiterinnen und ihren hier geborenen Kindern beschäftigt. Direkt daneben hängt das Foto eines Säuglings in einer der Ausländerkinderpflegestätten. Er hat diese Zeit vermutlich nicht überlebt.

„Bei Kriegsende verließen wir das Lager und wohnten bei Frau Hinz, wo auch ein russischer Stab einquartiert war.“ Noch im April 1945 wurde die Familie von der Roten Armee in Güterwaggons zurück in die Sowjetunion geschickt. Der Vater wurde in ein Strafbataillon eingezogen, denn laut Stalin waren alle Zwangsarbeiter Kollaborateure. Er wurde an die Front gegen Japan geschickt und kehrte erst 1946 zu seiner Familie zurück. Lange hatten die ehemaligen Zwangsarbeiter in der Sowjetunion unter dem Kollaborationsverdacht zu leiden. Erst Anfang der 90er-Jahre wurden wenigstens die zum Zeitpunkt der Verschleppung Minderjährigen moralisch rehabilitiert.

Margaritas Mutter Lidija lebt noch immer in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Bis heute hat sie von deutscher Seite keine Entschädigung erhalten.

Die Ausstellung „Der erste Schrei oder Wie man in Neukölln zur Welt kommt“ im Heimatmuseum Neukölln ist noch bis April 2001 zu sehen. Mi – Fr 13 – 18 Uhr, Sa, So 12 – 18 Uhr, Eintritt frei.

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