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Die Euphorie der Finanzwelt

Schriften zu Zeitschriften: Die „Neue Rundschau“ beschäftigt sich mit den Umtrieben des jüngsten Börsenkapitalismus. Ganz ohne kritische Theorie, aber auch ohne Beschreibung der Börse als Roman

von RENÉ AGUIGAH

Eine der erstaunlichsten Eigenheiten von Fernsehsendern wie ntv sind die Börsenkurse, die dort immer durchs Bild laufen. Weiße Buchstaben auf blauem Grund, die von Siemens und Telekom, von Dax und Dow Jones handeln. „Rollbalken“ heißt der Streifen im Jargon der Fernsehmacher, weil er rollt und rollt und rollt, völlig egal, ob in den oberen sieben Achteln des Bildes gerade ein amerikanischer Präsident grinst oder afrikanische Kinder hungern. Es gibt nur eine Sorte Bilder, die das Endlosband unterbricht: Werbespots. ntv zeigt seinen Zuschauern also, grob gesagt, entweder Börsendaten oder Werbung – und klärt sie auf diese Weise darüber auf, wer das Programm des Nachrichtensenders regiert, nämlich die Wirtschaft.

Es muss eine Zeit gegeben haben, in der man glaubte, dass die Wirtschaft weit mehr bestimme als nur eine Fernsehstation. Marxisten und Liberale waren sich in diesem Punkt einig, beide hielten die Ökonomie für den Motor der Gesellschaft. Und beide erklären die Wirklichkeit längst nicht mehr, behauptet Jürgen Kaube in der Neuen Rundschau, deren gerade erschienene Ausgabe sich mit den sonderbaren Umtrieben des jüngeren Börsenkapitalismus beschäftigt.

Kaubes Beitrag eröffnet das Heft, und so liest man gleich zu Anfang, was die Zeitschrift nicht will: weder die „Beratungsliteratur“ der Wirtschaftswissenschaften noch eine „kritische Theorie“ alten Typs reproduzieren. Denn in Wahrheit, so Kaube, wissen alle, dass man vor dem Kapitalismus „weder davonlaufen noch die lange Frist überleben kann, bis alles gut und effizient geworden sein wird“. Die Souveränität, mit der der Essay auf zwölf Druckseiten zwei alteuropäische Theorietraditionen wegwischt, ist natürlich alles andere als bescheiden. Aber Kaube ist, geschult an Niklas Luhmann, zu sehr Ironiker, als dass er dabei mit heroischer Geste auftreten könnte; er will doch bloß das moderne Wirtschaften neu beschreiben. Dazu hangelt er sich an den „Zumutungen“ des Kapitalismus entlang. Eine davon bestehe darin, dass gerade durch die Börse jene Rationalität außer Kraft gesetzt werde, die die Wirtschaftstheorie den Märkten so gerne unterstelle. Das Börsenparkett bevölkert kein transparenter Homo oeconomicus, vielmehr, so referiert Kaube neuere Forschungen, beruhe das „Vertrauen in die unbegrenzte Fähigkeit des Finanzmarktes, immer neue Höhen zu nehmen (...), auf einem Gemisch aus Zufallsbeobachtungen, Vergnügen an euphorischen Zuständen und Gemeinplätzen“. Die Spekulation des Jahres 2000 kommt also ohne Fantasie nicht aus, und so mündet diese Börsenbeschreibung in der Pointe, dass die Wirklichkeit in Frankfurt oder New York möglicherweise spannender sei als Literatur, die den Stoff der Finanzwelt verarbeite.

William Gaddis' Wirtschaftssatire „JR“ wäre so ein Buch. Der Titelheld ist ein elfjähriger Junge, der an der Wall Street zum Finanzgiganten aufsteigt. Naiv und brutal, wie er ist, verkörpert er den amerikanischen Unternehmergeist, anonym, wie er bleiben muss, nimmt er die namenlosen Käufer der Telekom-Aktie vorweg. Paul Ingendaay zeigt, wie in dieser „avantgardistischen Version des roman fleuve“ die Fluten der Wörter, der Informationen, des Geldes ineinander verschwimmen. Er interpretiert leidenschaftlich, so sehr, dass er die Grenzen der Interpretation zu spüren meint: Das „Bezwingende“ des Buches lasse sich gar nicht schildern, diesem „ästhetischen Totalerlebnis“ müsse sich der Leser selbst aussetzen. Der Vermutung, die Börsenliteratur verblasse vor dem Börsenleben, widerspricht Ingendaay schon deshalb, weil er an die prophetische Kraft eines Schriftstellers glaubt. Gaddis habe, als er „JR“ 1975 veröffentlichte, „fast alles vorher gewusst, auch über uns, für die der Börsenkapitalismus inzwischen ohne Gegner dasteht“, schreibt er. Ganz unironisch.

„Späte Halbschlafimpressionen“ kommen ohne solche Bedeutungsschwere aus; so hat Joachim Kalka seine Gedanken über monetäre Motive in Film und Literatur genannt. Ihm sind etwa die „Metaphernschwärme“ der Anlageberater und Wirtschaftsjournalisten aufgefallen. Sie ließen eine verschüttet geglaubte, kindliche Welt wieder aufleben: die Schatzsuche. Auch Ingendaay erkennt im jüngsten Börsenfieber die „Infantilisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge“, aber Kalka sinniert an dieser Stelle nicht über erwachsene Totalerlebnisse, sondern über Bücher aus Kindertagen: Märchen und Stevensons „Schatzinsel“.

Schade, dass die Streifzüge, die diese literarische Zeitschrift durch die blühenden Börsenlandschaften unternimmt, eine Frage nicht berühren: Was für einen Text schreibt die Börse eigentlich selbst? Diese Frage hat Alexander Kluge vor einiger Zeit dem Kulturwissenschaftler Joseph Vogl gestellt – nicht im Medium der Literatur, sondern in einer seiner Fernsehsendungen (die man wohl als das größte anzunehmende Gegenteil von ntv charakterisieren könnte). Im Hintergrund die Soundkulisse der Broker, versuchten sich Vogl und Kluge an einer Beschreibung der Börse als Roman: als ein System, das – wenn auch denkbar wenig romaneske – Ereignisse nach bestimmten Regeln verkettet. Kluge taucht auch in der Neuen Rundschau auf, und zwar in der Rolle des Befragten. Leider streift das Gespräch sein Denken über den Kapitalismus nur am Rande. Es geht um andere Facetten seiner monumentalen „Chronik der Gefühle“ – ein schönes Gespräch, überhaupt ein schönes Heft. Aber eine Poetologie der Börse bliebe noch zu schreiben.

„Neue Rundschau: Geld und Spiele“, Heft 1/2001, 112. Jg., hrsg. von Martin Bauer, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 174 S., 16 DM

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