: Wahnsinn: Baby-Wunder in Bremen
■ Es wird ein ereignisreiches Jahr gewesen sein: Im vorauseilenden Jahresrückblick auf 2001 steht schon heute, warum Werder abgestiegen ist und wie der Senat mit dem ersten BSE-Fall im Rathaus fertig geworden sein wird
9. Januar Der Bremer Senat will die JVA Oslebshausen als neuen Standort für Radio Bremen (RB) prüfen lassen. Wirtschaftssenator Josef Hattig (CDU) hält das Gebäude sogar für geeigneter als einen Neubau auf dem Bahnhofsvorplatz: „Radio Bremen muss die Zügel zack straffer anziehen. Und für eine Anstalt zack zack gibt es nichts besseres als eine Anstalt.“ RB-Intendant Heinz Glässgen erklärt, dass ein Umzug eine von vielen denkbaren Möglichkeiten sei und er deshalb darüber nachdenken werde. Drei Stunden später kann er der JVA-Idee Positives abgewinnen: „Die Leiter der neuen Fachredaktionen könnten in den Räumen der Vollzugsbeamten untergebracht werden und hätten stets einen prima Überblick.“ Die taz erinnert in diesem Zusammenhang an den von Michel Foucault geprägten Begriff der totalen Institution und versteigt sich in unverständlichen Betrachtungen zum Thema „Überwachen und Strafen in ganz kleinen ARD-Anstalten“.
15. Januar Der Senat meldet den ersten BSE-Fall. Senatskanzleichef Reinhard Hoffmann soll in einer Staatsräterunde für eine Verdoppelung des Kulturetats plädiert haben. „Da habe ich sofort den Notarzt gerufen“, sagt Senatssprecher Klaus Schloesser. Ein getarntes Team des Radio-Bremen-Regionalmagazins „Buten & Binnen“ hat dies mit versteckter Kamera gefilmt. Die Ausstrahlung des Beitrags hat Bürgermeister Henning Scherf (SPD) vor Wut schäumen lassen. Jetzt will er eine vorherige Abnahme der Beiträge durch das Rathaus im Radio-Bremen-Gesetz verankern. RB-Intendant Heinz Glässgen will das durch ein Gutachten der Unternehmensberatung Roland Berger prüfen lassen.
21. Januar Der Senat wird mit dem mit 23.000 Mark dotierten Methusalem-Preis der Gerontologischen Gesellschaft ausgezeichnet. „Durch die Zusammensetzung der Landesregierung leisten die Koalitionäre einen herausragenden Beitrag zur Integration älterer Menschen in das aktive Berufsleben“, heißt es in der Laudatio. Die Bürgermeister Scherf (62) und Perschau (59) sowie die SenatorInnen Hattig (70), Schulte (59), Lemke (54), Wischer (57) und Adolf (48) reagieren verhalten auf die Verleihung des Wanderpokals.
7. Februar Gesundheitssenatorin Hilde Adolf (SPD) muss zurücktreten. Bei einer Ansprache vor der Bremer Regionalgruppe der Rindfleischgeschädigten entfleuchte der Senatorin der verhängnisvolle Satz „Essen ist gesund“. Tags darauf titelt die Bild-Zeitung „Gemein: Adolf verspottet BSE-Opfer“. Alle Versuche der Senatorin, ihren Fauxpas mit dem Hinweis zu rechtfertigen, dieselbe Rede habe sie in ihrer Amtszeit schon 5.000 Mal gehalten, ohne dass sich jemand beschwert hätte, fruchten nichts. Die Gerontologische Gesellschaft reagiert prompt: Mit dem Ausscheiden der jüngsten Senatorin dürfte Bremen im Wettbewerb um den Methusalem-Preis auf Jahre nicht zu schlagen sein. Auf Empfehlung der Unternehmensberatung McKinsey habe man sich daher entschlossen, Verwaltungskosten zu sparen und den Wanderpokal bis auf weiteres in der Hansestadt zu belassen. Senatssprecher Klaus Schloesser reagiert begeistert: „Wir sind auf dem richtigen Weg, und das wird inzwischen auch außerhalb Bremens anerkannt.“
12. Februar Nach dem endgültigen Aus für das Pilotprojekt Mammascreening präsentieren Eberhard Greiser vom Bremer Institut für Prävention und Sozialmedizin (BIPS) und MedizinerInnen ein neues Projekt: Papascreening. Einmal im Jahr sollen sich werdende Väter in einem Massenspektrometer untersuchen lassen. Damit seien zwar Risiken wie Zerstreuung verbunden, räumt Greiser ein. Doch die Aussicht auf eine Verbesserung der Spermaqualität der männlichen Bevölkerung Bremens gleiche die Nebenwirkung aus. Greiser selbst fühlte sich nach einem Selbsttest „etwas aufgelöst“, aber auch „neu sortiert“.
15. März Der ohne weitere Untersuchungen nach acht Wochen aus dem Zentralkrankenhaus Sankt-Jürgen-Straße entlassene Senatskanzleichef Reinhard Hoffmann unternimmt einen neuen Vorstoß zur Gründung eines Nordwest-Staates. „Bremen ist allein als Bundesland nicht lebensfähig“, schreibt Hoffmann in einem Brief an die Bürgermeister der Umlandkommunen. Doch ohne ein starkes Bremen sei auch das Umland nicht lebensfähig. Hoffmann schlägt als Sofortmaßnahme eine Konferenz zur gemeinsamen Landesplanung vor. „Die gibt es doch schon“, seufzt Senatssprecher Klaus Schloesser und ruft den Notarzt.
5. April Die Unternehmensberatung Mummert und Partner stellt die Ergebnisse ihrer von der Bremer Marketing Gesellschaft in Auftrag gegebenen Untersuchung vor. Die zentrale These: „Bremen sollte sein Stadtmarketing optimieren und deshalb prüfen, ob die Gründung einer Marketing-Gesellschaft unter dem Namen Marketing Bremen GmbH oder Bremen Marketing GmbH sinnvoll erscheint.“ Klaus Sondergeld, Chef der Bremen Marketing GmbH, erklärt, dass es sich um eine Verwechslung handele und ein zehn Jahre altes Gutachten präsentiert worden sei. Mummert und Partner hatte schon 2000 durch eine 195.000 Mark teure Studie zur Sozialhilfe für Aufsehen gesorgt. Mummerts Feststellung: Es gibt viele Sozialhilfeempfänger, und wir wissen auch nicht, was man dagegen tun kann.
13. April Unter dem Titel „Niemand versteht das GmbH-Kuddelmuddel“ kritisieren die Grünen die Privatisierungspolitik des Senats. Die Zahl der ausgelagerten Gesellschaften ist seit Mitte letzten Jahres um das Doppelte auf rund 500 angewachsen. Da blicken selbst die Wirtschafts- und Finanzsenatoren Hattig und Perschau (beide CDU) nicht mehr durch. Die Unternehmensberatung Roland Berger wird mit einem Gutachten zur „Steuerungsoptimierung in der New Public Economy“ beauftragt. Als Sofortmaßnahme will der Senat einen Super-Controller anstellen, der das Controlling kontrollieren soll.
19. April Der SV Werder Bremen hat einen einmaligen Rekord aufgestellt: Seit Ende der Winterpause haben die Grün-Weißen in acht Bundesligaspielen keinen Punkt gewonnen und kein Tor erzielt. Werder-Manager Klaus Allofs zeigt sich dennoch zufrieden mit der Saison-Leistung: „Wir rangieren immerhin noch vor dem Tabellenersten der 2. Liga. Wenn wir uns jetzt ganz doll zusammenreißen, können wir in den verbleibenden Spielen noch Platz 17 erreichen“. Das Potenzial habe die Mannschaft auf jeden Fall.
17. Mai Das Werder-Präsidium gibt die Trennung vom Manager Klaus Allofs bekannt. „Es gab unüberbrückbare Differenzen bei der Bestimmung unserer Saisonziele“, begründet Werder-Präsident Böhmert die fristlose Kündigung von Allofs. Er selbst zeigt sich erstaunt über diese Maßnahme: „Ok: Platz 17 war hoch gesteckt – aber wir hätten das packen können.“
1. Juni Werder Bremen beendet die Bundesligasaison auf Platz 18. Da die Bremer in der gesamten Rückrunde tor- und punktelos geblieben waren, entzieht der Deutsche Fußball Bund (DFB) den Bremern die Lizenz für den Profibereich. „Die müssen wieder ganz klein mit Tischfußball anfangen“, erläutert ein DFB-Sprecher diese pädagogische Maßnahme. Als Trainer für den Neuaufbau wurde der kahlköpfige iranische Nationaltrainer Christoph Daum verpflichtet. „Der Christoph wäre um Haaresbreite Bundestrainer geworden. Das ist der richtige Mann, um wieder den richtigen Zug in unsere verunsicherte Truppe zu bringen“, freut sich Werder-Präsident Böhmert.
5. Juni Die Grünen belegen ein „Positive Thinking“-Wochenende bei Mahavishnu Praba Laba und wenden sich anschließend mit einem spektakulären Vorschlag an die Presse. Da der SV Werder Bremen auf absehbare Zeit keine Verwendung für das Weser-Stadion mehr hat, erübrigt sich auch der 20 Millionen Mark teure Umbau des Stadions für die Fußball-WM 2006. „Für das Geld könnte man das riesige Areal in ein Bioversum mitsamt Rhododendron-Blumenampel und einer Bühne für Musicaldarbietungen verwandeln“, visioniert die Bürgerschaftsabgeordnete Karoline Linnert. Selbst ein Eckchen für die Bauwagen der Ex-Weidedamm-BewohnerInnen um Klaus Möhle ließe sich im weiten Stadionrund noch finden. Die Stadt wiederum spare viel Geld, löse gleich mehrere Probleme auf einen Schlag und sei um eine weltweit einmalige Touristenattraktion reicher. Senatssprecher Klaus Schloesser reagiert reserviert: „Wir müssen das erst von einer Unternehmensberatung durchrechnen lassen.“ Die Sparkasse hingegen zeigt sich begeistert und verleiht Linnert den mit fünf Mark dotierten Preis für innovative Stadtplanungsideen im Zeitalter des Sanierungssicherstellungsgesetzes.
13. September Der Weser-Kurier baut seine Kulturberichterstattung aus. Neben „Kultur“ und „Kultur vor Ort“ gibt es ab sofort auch die Seiten „Kultur im Ort“, „Kultur am Ort“, „Kultur und Sport“, „Kultur sof Ort“ und „Kultur ab Ort“. „Kultur hat viele Facetten“, erklärt Ressortleiter Peter Groth dem Branchendienst „Kress-Report“. Das neue Thesenpapier „Kultur bringt Gewinn“ der Initiative Anstoß und der Handelskammer könne nunmehr im Wortlaut dokumentiert werden.
25. November Im Kleingartengebiet In den Wischen wollen Parzellisten eine Marienerscheinung gesehen haben. „Sie sprach plattdeutsch und roch nach Minze“, schildert ein Kleingärtner die ungewöhnliche Begegnung. Maria habe gesagt, Bremen sei das schönste Land im Norden, und sie wolle wiederkommen. Daraufhin wird das Kleingartengebiet von Millionen von Pilgern gestürmt. Der Senat lässt über Nacht Containerdörfer für die BesucherInnen errichten und gründet die Landesentwicklungsgesellschaft größerer Ordnung (LEGO), um das Ereignis bundesweit zu vermarkten.
15. Dezember Die LeserInnen der Zeitschrift Musicals wählen das Bremer Stück „Jekyll & Hyde“ zum besten Low-Price-Stück des Jahres. Die Musical-Geschäftsführung hat seit April die Kosten durch Einsparungen – unter anderem des Orchesters, der Garderobenfrauen und der Schauspieler – drastisch reduziert. Eintrittskarten werden seitdem zum Preis von zehn Mark angeboten. „Pilger könnten sogar für fünf Mark Eintritt einen Mordsspaß haben“, sagt Musical-Geschäftsführer René Meyer-Brede.
17. Dezember In der Redaktion des Weser-Kurier knallen die Sektkorken. Kulturredakteur Rainer Mammen hat seinen ersten Text in diesem Jahr geschrieben. „Das Rotkehlchen“ – eine Ode auf die Schönheit der Grünen-Politikerin Helga Trüpel.
24. Dezember Bremen erlebt einen einzigartigen Baby-Boom. Nach Angaben des Senats stieg die Zahl der Geburten von vier pro tausend auf 43 pro tausend. Rekordstadtteil sei das Ostertor. Besonders die Geburtenrate an der Kohlhökerstraße (allein 30 in dieser Woche) versetzt selbst Experten in Erstaunen. Die Bild-Zeitung titelt „Wahnsinn: Bremer Baby-Wunder“. In der Welt erklärt Eberhard Greiser vom BIPS, das „Wundergerede für Quatsch“: „Alles ein Resultat des Papa-Screening.“
Christoph Köster, Franco Zotta
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