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pickpocketsVom Vogelfelsen bis zum Kellerfenster: literarische Brutplätze der Erinnerung

Die Küsten der Kindheit

Seligkeit und Schrecken der Kindheit bilden Erfahrungsmuster, die sich erst im Rückblick ordnen, in Erinnerung und literarischer Rekonstruktion. Und weil man, nach Ludwig Marcuses klugem Wort, erst in der Erinnerung so richtig dabei gewesen ist, sind Kindheit und Jugend ein großes und traditionsreiches Sujet der Literatur; vielleicht gar das größte.

„Die Kindheitserinnerungen“, schreibt der dänische Autor Martin Andersen Nexö in seiner Erzählung „Die Küste der Kindheit“, „haben ihre eigenen Brutplätze, Stellen, wo jeder Fußbreit lebendig ist wie ein Vogelfelsen, und wo bei jedem Schritt, den man tut, neue Erinnerungen aufflattern.“ Die Brutplätze der Erinnerung, die Nexö auf der Insel Bornholm fand, lagen für den amerikanischen Romancier William Maxwell im ländlichen Illinois. In seinem kleinenRoman „Also dann bis morgen“ erinnert sich ein Erwachsener an einen Mord, der fünfzig Jahre zurückliegt. Die Freundschaft des Ich-Erzählers, der damals ein Kind war, zu dem Sohn des Mörders zerbricht an dieser Tat. Der Text ist eine Studie kindlicher Mitleidlosigkeit, von der man genauso wenig schweigen sollte, wenn man vom Glück der Kindheit spricht, wie von der merkwürdig gedankenlosen Grausamkeit, zu der Kinder fähig sind.

Wer über die Familienstruktur seiner Kindheit den schlichten Schluss ziehen kann: „Wir waren glücklich“, der hat tatsächlich Glück gehabt – oder ein sonniges Gemüt. Luciano De Crescenzo hat beides, und er liefert mit „Als wäre es gestern gewesen“ die Geschichte seiner Kindheit im Vexierspiegel einer Porträtgalerie seiner neapolitanischen Familie.

Sibylle Lacans Text „Ein Vater“ ist gewissermaßen das exakte Gegenteil zu De Crescenzos Plaudereien. Denn die Tochter des Psychoanalytikers Jacques Lacan schreibt ein Dokument des „Stücks Hölle“ in jeder Vater-Tochter-Beziehung, die, wie auch hier, eher als verhinderte Beziehung empfunden wird. Wer Wut, Trauer & Betroffenheit für den wahren Kern von Literatur hält, findet mit diesem Text ein idealtypisches Manifest: garantiert humorfrei.

„In der Erinnerung war das Fenster viel größer, so groß wie die Welt, die er durch das Fenster sah, in den vielen Tagen und Nächten, die in der Erinnerung zu einem Bild wurden, zu einer unbewegten, atemlosen Zeit, lautlose Nächte und stumme Tage, die vergingen, wie sie erschaffen wurden, unter einer kalten Sonne, die vom Morgen bis zum Abend die Erde mit ihrem Licht überzog, versteinerte Überreste einer versunkenen Welt unter weiß leuchtenden Sternbildern, stumpfe Mauern, zerstörte Häuser, verschüttete Straßen, verglühte Kirchenschiffe, die Silhouette einer untergegangenen Stadt mit ihren schroffen Konturen im Mondlicht.“ Mit diesem Blick aus einem Kellerfenster beginnt Dieter Fortes großartiger Roman „In der Erinnerung“. Forte erzählt aus der Perspektive eines Zehnjährigen vom Kriegsende 1945, erzählt aber zugleich auch, wie Erinnerung überhaupt funktioniert und welche Verklärungen und Verzerrungen sie auslöst.

Wem das aber alles zu literarisch vage vorkommt, greife zum Unicef-Report „Zur Situation der Kinder in der Welt 2001“. Daten und Zahlen belegen unmissverständlich, dass von Kindheitsglück keine Rede sein kann, wo Kinderarbeit, Unterernährung und Analphabetentum herrschen. In seiner Einführung erzählt Nelson Mandela von seiner – übrigens glücklichen – Kindheit. „Jetzt“, sagt er, „da ich ein alter Mann bin, sind es die Kinder, die mich inspirieren.“ Wer von solcher Inspiration nichts wissen will, der ist auch für die Literatur verloren. KLAUS MODICK

Martin Anderson Nexö: „Die Küste der Kindheit“. Aufbau TB. 310 S., 15,90 DMDieter Forte: „In der Erinnerung“. Fischer TB. 252 S., 18,90 DMWilliam Maxwell: „Also dann bis morgen“. Fischer TB. 165 S., 17,90 DMSibylle Lacan: „Ein Vater“. suhrkamp tb. 68 S., 11,90 DMLuciano De Crescenzo: „Als wäre es gestern gewesen“. btb. 127 S., 14 DM

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