: Stille Tage mit Napster
Wo Erinnerung war, kann Musik werden – man muss nur die richtige Software runterladen. Das geht erst sehr einfach und macht dann sehr euphorisch, weil alle Platten, die man je auf dem Flohmarkt verkauft hat, plötzlich nur einen Mausklick entfernt sind. Und manchmal spricht einen sogar jemand an
von DETLEF KUHLBRODT
Neulich entdeckte ich Napster. „Entdeckte“ ist sicher das falsche Wort; von der Existenz des Musikaustauschprogramms wusste ich natürlich schon eine Weile und hatte nebenbei auch das juristische Hin und Her und die schließliche Übernahme durch Bertelsmann verfolgt. Nur hatte ich Napster eben noch nicht auf meinem Computer drauf, was wie gesagt, kürzlich verändert wurde.
Es ist immer seltsam, ein neues Programm auszuprobieren; zuvor denkt man, dies alles sei sehr kompliziert und könne nicht funktionieren, schon beim Runterladen würde es Probleme geben und später sicher noch viel mehr; dann funktioniert es doch, und man ist ein euphorisch und versteht überhaupt nicht, weshalb das nicht jeder hat. Napster ist eine gute Sache. „Gute Sache“ ist auch nicht das richtige Wort. Es ist eher so ein Programm, so ein neues Medium, das einem seltsame Wiederbegegnungen ermöglicht.
Neulich träumte ich zum Beispiel und wusste nach dem Aufwachen nur noch, dass das, was in dem Traum geschah, eine große Wichtigkeit hatte, die wie das meiste irgendwo in der Kindheit lag, und erinnerte mich dann plötzlich – nicht an Bilder, aber an ein Lied, das den Traum begleitet hatte. Das Lied hieß „Magic Woman Touch“ und war der Song mit dem die Hollies 1973 ein Comeback hatten; ein schlicht sentimentales Stück, das damals für ein paar Wochen auf Platz 3 oder 4 der Charts stand, deshalb nicht auf den gängigen „Best of“-CDs drauf war und mir deshalb auch nie über die tausend Sendern begegnet war, die die „beste Musik der 60er, 70er und 80er“ für Popmusikhasser verramschen. Jedenfalls war das eine der ersten Singles gewesen, von der ich mich als sentimentales Kind im orange angestrichenen Partykeller gern rühren ließ. Ende der Siebziger verkaufte ich dann die meisten meiner peinlichen Platten auf dem Flohmarkt und das Lied der Hollies überwinterte in meinem Kopf.
Und nun lud ich mir also Napster am Morgen runter, alles ging prächtig und es gab tatsächlich haufenweise Leute am Vormittag, die online waren und das Stück auf ihrem PC hatten; wie ich nach einer Viertelstunde – meine Leitung ist langsam – dann auch. Komisches Gefühl, so ein letztlich völlig überflüssiges Lied noch einmal zu hören und den Text im Rahmen der damaligen Englischkenntnisse sogar noch zu kennen. „Erinnerungen kommen vorbei: Memories pur“ (Helge Schneider). Allerdings nur das erste Mal und auch nur in der ersten Minute des Stücks; dann hat sich das Stück wieder erfolgreich in der Gegenwart etabliert, mit dem Jetzt verbunden, seine Tiefe verloren und taugt als Erinnerungsbehälter, in dem eine Campingliege im orange Partykeller herumstand, nicht mehr. Mit knirschenden Kratzern hätte es wahrscheinlich mehr Macht gehabt. Alte Lieder überwintern bei Napster wie die Leichen der Reichen in den Tiefkühltruhen, von denen man sich in den Siebzigern eine gewisse Unsterblichkeit versprach. Schade eigentlich.
Dann experimentiert man mit anderen Stücken, die man mindestens 20 Jahre nicht gehört hat; „Ernie“, die tragische Geschichte des „fastest Milkman in the West“ von Benny Hill, war nicht ganz so schlimm, wie befürchtet; „Merry go round“ von der ein paar Jahre erfolgreichen Krautrockelektronikhippieband Grobschnitt war nicht ganz so zynisch-lustig, wie ich es in Erinnerung hatte. Mag es das Leben auch prägen, wenn man als Teenager pompöse Drogenmusik hört, bei der die Leute ständig singen: „Du schaffst das nicht, du kannst das nicht, lass das sein.“
Andere Lieder, die mir in den Tagen mit Napster so einfielen, behielten ihren Zauber, wie „Julia Dream“, eine der ersten Pink-Floyd-Singles, dies großartig elegante „San José“ von „Frankie Goes To Hollywood“ oder Kraftwerk. Wobei es mir nie gelang, die 22-Minuten-Version von „Autobahn“ vollständig auf meinen Computer zu laden. Das lag an meiner langsamen Leitung, mit der der Ladevorgang mindestens anderthalb Stunden gedauert hätte, und die blieb der freundliche „Autobahn“-Besitzer halt nie online, so dass meine MP-3-Version kurz nach „Jetzt schalten wir das Radio an“ wieder abbrach. „Autobahn“ ist mittlerweile das teuerste Stück meiner Sammlung, und später kaufte ich mir doch die CD.
Napster ist ein musikalisches Schlaraffenland. Man findet eigentlich alles. Die wildesten Dinge. Dass 30 Leute am Vormittag Charles Mansons „Cease to exist“ auf ihren PCs hatten, ein Stück nach dem ich Jahre gesucht hatte, ist schon ziemlich erstaunlich. Wenn man unter „Adolf Hitler“ sucht, gibt es ziemlich krasse Technostücke. Manchmal ist Napster so ähnlich wie Bücher zu kaufen, die man immer schon mal lesen wollte, also irgendwie auch frustrierend, weil Popmusik die Gegenwart braucht, die in ihr verarbeitet wird, und es irgendwie ja auch spießig ist, sich Sachen nur der Vollständigkeit halber herunterzuladen.
Manchmal ist es so, wie Bücher noch mal lesen, also auch mit Enttäuschungspotenzial drin. Andererseits fühlt man sich manchmal auch so ähnlich wie beim Angucken alter Fotos, und alte Sehnsüchte begegnen einem. Viel wird auch gemunkelt, dass Napster-Boykotteure, womöglich die Industrie, ganz viele gefakte Musikstücke ins Netz stellt. Das ist mir nur einmal passiert. Bei „Julia Dream“ lag zwischen Intro und den Abschiedszeilen des Songs irgendwas anderes, was ich nicht hatte haben wollen.
Interessant sind auch die anderen Funktionen von Napster. Man kann sich die Musiksammlungen der Teilnehmer angucken, die ziemlich breit gefächert sind (Juliette Greco neben Technodingen), oder auch chatten. Am Sonntag sprach mich auch mal jemand an; ein Chatfenster öffnete sich mit kryptischen Einzelworten: „Heroin“. Ich antwortete mit Fragezeichen. „Kokain“ eine Weile später und „Berlin?“ – „Yes. I live here.“ Der mich angesprochen hatte, sagte, er sei aus Amsterdam. Ob ich Christiane F. kennen würde, womöglich gar der Freund von Christiane F. sei. Der hieß ja auch Detlef. Ich war ja, weil mir nichts anderes eingefallen war, unter meinem echten Namen bei Napster. Nö, ich sei nicht der Freund von Christiane F.; meines Wissens ist der eh schon lange tot. Das war dann der ganze Dialog.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen