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kabolzschüsseAuf der Suche nach Berlins randigster Randsportart

Carrom

Die jahreszeitliche Staffelstabübergabe vom Berliner Braunmatschschnee zur ungastlichen Regenkälte erhöht die Gelüste nach gemütlichem Brettspiel an langen Winterabenden. Nach einem frustrierenden Scrabble-Abend mit hauptberuflich Kreuzworträtselnden und Antipathien für eine imperialistische Risikoauswürfelei beginnt die Spurensuche nach neuem Zeitvertreib.

Carrom-Boards sorgten Ende der Achtzigerjahre in manchen Kneipennischen und Kaufhausabteilungen für Regelrätselraten. Während in den Kneipen die Spielsteine mit zurechtgestutzten Bierdeckeln in die Eckschlitze versenkt wurden, konnte im Recklinghäuser Kaufhaus „Divi“ nur ein gewiefter Einzelhandelskaufmann etwas mit dem quadratischen Bandenbrett von 74 x 74 Zentimetern anfangen. Er nutzte sein ladenhüterisches Ausstellungsobjekt zur Abstützung eines wackeligen Lagerregals.

In Asien sieht das anders aus. Dort schnippen über 200 Millionen Menschen die Strikerscheibe per Zeigefinger gegen neun kleinere schwarze und weiße Rundstücke, die Mühle- oder Damesteinen ähnlich sehen. Carrom ist Fingerbillard, der Striker oder Fligg ersetzt den Queue. Im Einzel und Doppel bringt das Versenken eines eigenen Steines einen Punkt, vorentscheidend aber ist das gezielte Verschwinden lassen der neutralen Königin. Sie bringt nur drei Punkte ein, wenn nach ihr noch ein eigener Stein in eine beliebige Tasche geschnippt wird.

„Allerdings bietet Carrom wurstbefingerten und kölschtrunkenen Grobmotorikern keine Profilierungschance“, bemerkt der St. Augustiner Autor Andreas Buderus nach einer Lesung in Potsdam, als er sein Turnierboard zur Entspannungspartie aus dem Kofferraum ins Hotelzimmer schaffte. Buderus erzählt, dass sich Carrom sogar aus dem Poolbillard englischer Offiziere in der Kolonialzeit entwickelte. Doch Reiseberichten des griechischen Philosophen Anarchis zufolge vergnügten sich bereits ägyptische Pharaonen mit einem ähnlichen Lochspiel, das unter dem Namen Kairam zuerst Jemen und später Indien erreichte.

Die große Internetpräsenz beweist, dass die Finger-an-Finger-Kultur sich hierzulande doch nicht auf Popelschnipsen und den James-Last-Swing beschränkt. In Berlin gibt es gleich zwei Vereine, die Friends of Carrom Kinetic Wave (FCKW) und den Carrom Sport Verein Berlin (CSV). „Intelligenz, Logik und Talent müssen eine Einheit bilden“, philosophiert Arif Naqvi vom CSV, gleichzeitig Präsident des Deutschen Carrom Verbandes (DCV). Zusammen mit seinem Teamkollegen Sebastian Holtmann reiste er im vergangenen November zur dritten Carrom-Weltmeisterschaft nach Neu Delhi. „Es gab keinerlei Transparenz oder Information über den Turnierverlauf“, berichtet Holtmann, der auch über die ungewohnt blauen Boards überrascht war: „Wie wir später erfuhren, hat man die Farbe aufgetragen, um kontrastreichere Darstellungen im Fernsehen zu ermöglichen.“ Nach dem begrüßenden Dudelsackmarsch einer indischen Militärkapelle und Siegen gegen Malaysia, USA und Italien zahlten die deutschen Schnipser Lehrgeld an die späteren Vizemeister aus Sri Lanka und den Viertplatzierten von den Malediven.

Zurück in Berlin plant Sebastian Holtmann nun mit einem Filmstudenten aus Potsdam einen dokumentarischen Kurzfilm, um zu verdeutlichen, dass Carrom mehr als nur ein weiteres Gesellschaftsspiel für lange Winterabende ist.

GERD DEMBOWSKI

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