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Schiffbruch happens

Im Kielwasser der Globalisierung: Der Dokumentarkünstler Allan Sekula hat für „Titanic’s wake“ Dockarbeiter in Seattle beobachtet und während der Anti-WTO-Demonstrationen fotografiert. Die Langzeitstudie wird im französischen Tours gezeigt

von JOCHEN BECKER

James Camerons Katastrophe des Gesellschaftsdampfers „Titanic“ war das Premiumprogramm zum Millenniumwechsel. Mit über einer Milliarde Dollar Einnahmen konnte der Film das Image der „Titanic“ kapitalisieren – schon am Set herrschte striktes Fotografierverbot. Parallel zu den Dreharbeiten reiste der Fotograf und Dozent Allan Sekula trotzdem aus Los Angeles ins nordmexikanischen Fischerdorf Popotla. Gleich daneben hatte Twentieth Century Fox im weltweit größten Süßwasserbecken die monströse Filmkulisse errichtet. Im Dorf mit seinen aus Restmaterial gezimmerten Hütten fehlte dagegen fließendes Wasser. Der Monumentalfilm konnte nur erscheinen, weil 40 Meilen südlich der Vereinigten Staaten Wasser, Land und Leute billig zu haben sind. So wiederholt sich in Popotla die im Film thematisierte Spaltung der Gesellschaft in Menschen erster und dritter Klasse noch einmal zwischen „erster“ und „dritter“ Welt.

Das Versprechen der Globalisierung als sozialer Fortschritt erscheint wie Camerons dunkel funkelndes Eismeer als Schlachtfeld. Die Bedingungen der Sweatshops, die der Fotopionier Lewis Hine zur Zeit der realen „Titanic“-Katastrophe in den USA dokumentiert hatte, kehren nun in so genannten Billiglohnländern wieder. Und mit ihnen vielleicht auch das Interesse für eine sozialdokumentarische Fotografie, von der Sekula sagt, dass sie in den frühen Siebzigern zu einem „dekadenten Genre“ wurde.

Damals studierte er beim Fotokünstler John Baldessari und dem Exilanten Herbert Marcuse in San Diego: „Mich hingegen interessierte 1972, wie man die soziale Dimension der Dokumentation wiederbeleben könnte.“ Nachzulesen ist dies in einem art-press-Interview vom November 1998, für das Pascalle Beausse den südkalifornischen Fotografen im Ateliers Calder in Saché besucht hatte. Sekulas ländliches Stipendium an der Loire mündete nun in der Ausstellung „Titanic’s wake“ im benachbarten Tours. Zwei im Centre de Création Contemporaine aushängende Porträts zeigen den jungen Journalisten bei der Arbeit: Kassettenrekorder, Notizbuch und Aktentasche hat er um eine tischartige Kiste herum ausgebreitet.

„Das Meer ist das große Unterdrückte in der Moderne“, kommentiert Allan Sekula seine neuesten Bildfolgen. „Vor fünf oder zehn Jahren war ich sicher, dass das Meer aus der Vorstellung zeitgenössischer Eliten verschwunden war. Nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Das Meer kehrt zurück, oft als Gothic-Erscheinung, erinnert und vergessen zugleich und immer mit dem Tod verbunden.“ Merkwürdigerweise taucht in „Titanic’s wake“ der Dampfer gar nicht mehr auf. Nur ein begleitendes Video im Nebenraum verweist auf die entsprechende „Dead Letter Office“-Bildserie: Am Leuchttisch legt Sekula Filmstreifen zu Serien zwischen Einzelbild und Triptychon zusammen und kommentiert sie aus dem Off. Sein projektübergreifendes Referenzsystem, das sich um maritime Themen herum bündelt, verbindet bisher entstandene Bildreihen und Publikationen. Wie ein fortlaufender Text kommen neue Fragmente und Exkurse hinzu, sodass im „Kielwasser“ oder bei der „Totenwache“ – möchte man „Titanic’s wake“ übersetzen – der Ozeanriese auch gar nicht mehr aufzutauchen braucht.

Tours-Tour

In Tours kreuzt die Nationalstraße 10 die Loire Richtung Baskenland. Die Stadt liegt 240 Kilometer von Paris entfernt, doch der TGV verbindet Pendler wie KunsttouristInnen in einer Stunde mit der Kapitale. Am Umsteigebahnhof Saint-Pierre-des-Corps hatte Sekula eine Werkstatt der Bahngesellschaft SNCF fotografiert, deren organisierte ArbeiterInnen als kampferprobt gelten. Doch statt historischer Streikaktionen findet Sekula hier nur Loks vor, die in einem holzigen Braun zu sargartigen Gebilden umlackiert wurden. Und auch Alexandre Calders Werkstatt – der verstorbene Plastiker hatte hier die Elemente seiner Skulpturen gießen lassen – zeigt sich nun als ganz normaler Metall verarbeitender Betrieb.

Die Allee nach Saché ist auf der Rückseite der Straßenschilder mit Telefonsexplakaten gepflastert. Am Ufer des letzten noch ohne festes Flussbett auskommenden westeuropäischen Stroms fotografierte Sekula eine kleine rauchende Wellblechhütte im herbstlichen Unterholz sowie einen magisch-metallischen Fisch. Von Nahem erinnert dieser Fang an das titanglänzende Guggenheim-Museum im baskischen Bilbao. Der vom Architekten Frank Gehry auf einem leer geräumten Werftgelände aufgetürmte Gebäudekomplex changiert zwischen Fisch, Schiff und Flugzeug. Gehrys „Invasion vom Planet Los Angeles“ bringt Sekulas Diptychon in Nachbarschaft zum Containerumschlagplatz, zu Hochspannungsmasten sowie bröckelnden Fassaden auf der anderen Seite des Flusses. Der üblicherweise bildfüllende Neubau, der vor die proletarische Realität der Hafenstadt gebaut wurde, zeigt sich im Doppelpanorama als dünne Fassade.

„Global Mariner“

Der Ausstellungsbereich des CCC gliedert sich in drei white cubes, einen Kinosaal plus Inforaum. In der Auslage zur Straße hin wird die Arbeit „Dear Bill Gates“ präsentiert (siehe taz, 15. 4. 00). Der Besuch in Seattle galt jedoch nicht Gates, sondern resultierte aus einem Tourneestopp des bislang wichtigsten Sekula-Projekts „Fish Story“, für das er von 1988–95 globale Handelswege, Hafenwirtschaft und Containerschifffahrt untersucht hatte. Parallel zur Ausstellung organisierte das Center for Labour Studies Veranstaltungen, für die Dockarbeiter als Tourguides fungierten.

Parallel zu Sekula machte auch die „Global Mariner“ auf ihrer Welttour im Hafen von Seattle Halt. Die Idee zu diesem Ausstellungs- und Agitationsschiff stammte aus dem Umfeld ehemaliger Greenpeace-AktivistInnen. Ein unter dem Heimathafen der Internationalen Docker-Union neu eingeflaggter Schoner dient als Vehikel für eine Ausstellung zu den Arbeitsbedingungen auf See, über Verkrüppelungen oder tödliche Unfälle bei Orkanen und Taifunen. Denn „eine ‚Titanic‘ passiert jedes Jahr, doch niemand hört davon“, erklärt ihr Kapitän Jimmy McCauley. Der umgebaute Frachter ist als Repräsentant all der anderen unsichtbaren Schiffe unterwegs. Bis zur eigenen Havarie hatte die „Global Mariner“ auf den Routen des Weltmeerhandels insgesamt 78 Hafenstädte angesteuert. Sozusagen als Preview zeigte Sekula in einem Vortrag Aufnahmen eines fein ausgeleuchteten „Estonia“-Wracks unter Glas. Die üblichen Arbeitsbedingungen auf See seien ein „race to the bottom“, berichtet Sekula, der das Schulschiff auf einigen Fahrten begleitet hatte. Am Ende des Millenniums war er mit an Bord. Welche Brecher da übers Schiff rollen, zeigt das Diptychon vom 31. Dezember 1999 vor der albanischen Küste.

The Battle of Seattle

In Tours stellte Sekula Aufnahmen zweier Dispositionsbüros für Dockarbeiter aus Seattle nebeneinander. Für regulär Angestellte ist eine Art Klingelbord aufgerichtet, an dem 120 Namensschilder zu Teams zusammengeschoben werden können. Die Gelegenheitsarbeiter erhalten ihre prekären Aufträge über Telefon und hinter Plexiglas mitgeteilt, so als wäre man im Knast. Ein weiteres Bild – nun in den Straßen von Seattle – zeigt die Aktivistin Kaela Economou mit Pflaster auf der Nase. Sie wurde bei den mittlerweile legendären Anti-WTO-Riots von der Polizei geschlagen, tragbare Kassettenrekorder und Diktafone gruppieren sich um ihre Dreadlocks herum. Das Bild ist die Verlängerung der Diapräsentation „Waiting for teargas“ im Saal nebenan. Operierte Sekula im nordamerikanischen Grenzgebiet als „Reporter“, kehrte er im Dezember 1999 als „Tourist“ nach Seattle zurück: „Die Arbeitsidee war, sich mit dem Fluss des Protests zu bewegen, von der Dämmerung bis 3 Uhr früh – wenn nötig, um auch die Ruhepausen, das Warten und die Ränder des Ereignisses aufzunehmen.“ Sein teilnehmender „Anti-Journalismus“ verzichtete auf Blitzlicht, Autofokus oder Teleobjektive und schützte sich weder mit Gasmaske noch Presseausweis.

War der Schock des „Battle of Seattle“ vielleicht das Erdbeben von Lissabon oder das Sinken der „Titanic“ unserer Dekade? Das Diakarussell zeigt Menschen ausgerüstet mit Regenschirm, Trillerpfeife, Kaputzenmütze, Rucksack, dazu ein Sammelsurium aus Gasmasken und Tücher vor dem Mund. Sie tragen Sports- und Streetwear, Schildkröten-Kostüme oder auch Schilder mit „human dignity not for sale“. Ihnen stehen Militärcops mit Schlagstöcken, armierte Polizisten in gepanzerten Fahrzeugen, japanische Delegierte mit umgehängten ID-Schildern oder der Nachrichtenmoderator Ted Koppel im Schaufenster eines Elektronikladens gegenüber, aber auch Businessleute hinter Glas oder berittene Polizisten vor dem Public Market Center. Die Weihnachtsleuchten in den Bäumen mischen sich mit dem Nebel der Gasgranaten und kontrastieren mit Gummigeschossen so groß wie Filmpatronen.

„Diese Philosophie des maximalen Gewappnetseins entspricht den gängigen Ideen von Kriegsführung, auch wenn die neu erstandene Widerstandskultur ihre Lehren von Gandhi bezieht“, schreibt Sekula im gerade erschienenen Büchlein „5 Days that shook the world“, das der Verso-Verlag mit einer Auswahl seiner Fotos abrundete. Die „Allianz der Straße“ hatte Sekula am Leuchttisch aufgearbeitet, um das Diakarussell zu munitionieren. „Diaprojektionen sind eine Art primitives Kino, der Diaprojektor ein quasiindustrieller Apparat, ähnlich dem, was man an vielen Fließbändern findet: Flaschenabfüllmaschinen zum Beispiel.“ Sekula beschreibt seine Montage aus Bildergalerie, Lesesaal und Vorführraum als Strategie, um gegen eine Fotografie als reaktionäres Tableau zu bestehen. Seine multiple Praxis als Fotograf, Kritiker, Dozent und Historiker besteht auf der verbindlichen Analyse, die in der Montage von Schrift, Bild, Objekt und Ton erstaunlich romantische Züge haben kann.

„Waiting for teargas“ springt zwischen dem Pathos des gerechten Kampfes und kostbaren Momenten des Widerstands hin und her. Als Serie befreit sich die Arbeit aus der journalistischen Falle, das definitive Bild von der Schlacht malen zu müssen. Und bleibt als Exponat dem Referenzsystem Kunst merkwürdig verhaftet. So zeigt ein Dia ein seltsam flaches Laubgebilde, das im white cube der Kunsthalle an Robert Smithsons Earth-Art-Arbeit „Spiral Jetty“ erinnert. Das Objekt diente über Stunden als Barriere zwischen Polizeiarmee und Protestierenden und erscheint wie die Freiheit der Kunst im kämpferischen Karneval, die die Schlacht zeitweise aufhebt.

Spiral Seattle

Doch die Referenzen reichen weiter: Vor dreißig Jahren von Smithson in einem Salzsee von Utah aufgeschüttet, könnte man „Spiral Jetty“ noch heute aufsuchen. „Manchmal lösen sich Bruchstücke von der Eisdecke und treiben als Eisberge auf dem See“, beschrieb Smithson das tote Meer. Versalzende Seen sind kaum mehr beschiffbar, und Metall korrodiert viel rascher: „In diesen Sedimenten lag Schutt und Schrott verstreut. Alte Molen standen nutzlos auf dem Trockenen. Der Anblick all dieser unbeweglich gebliebenen Trümmer versetzte einen in eine modern-prähistorische Welt.“ Rostende Pumpen erinnern an die jahrelangen Versuche, hier Öl zu fördern: „Dieser Ort zeugte von einer Serie technischer Systeme, die in aufgegebener Hoffnung versanken.“ Für Smithson boten gerade Industriebrachen, Tagebaustellen oder ein Flughafen-Neubau die Chance weiträumiger Konzepte. Obgleich der New Yorker Künstler sich von sozialkritischer Kunstpraxis absetzt, kommen seine apokalyptischen Visionen zwischen Strudel, Eisbergen und industriellem Zusammenbruch der Perspektive von Allan Sekulas „Titanic“-Arbeit überraschend nahe. Kürzlich wurde die „Global Mariner“ vor der Küste Venezuelas gerammt und versank in der Orinoco-Mündung. Wann kommen ihre Bergungstrupps?

„Titanic’s wake“, bis 4. 3., im CCC, Tours, Tel. (00 33) 2 47-66 50 00Alexander Cockburn/Jeffrey St. Clair/Allan Sekula: „5 Days that shook the world: Seattle and beyond“, Verso, London, 2001, £ 12WTO History Project am Center for Labor Studies: www.wtohistory.org

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