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„Lernen kann ruhig schwer sein“

Interview: HANNO HEIDRICHund ANDREAS BAUER

taz: Herr Weizenbaum, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit ethischen Fragen des Computers. Sie sehen das Internet als Kommunikationsmöglichkeit, zugleich aber kritisieren Sie die Euphorie und Vergötterung des Mediums. Warum?

Josef Weizenbaum: Das Internet ist zu einem Massenmedium geworden. Eine Seite davon ist demokratisch. Aber wie bei allen anderen Massenmedien, Fernsehen, Radio und Zeitung, ist auch im Internet 90 Prozent Schrott. Ja, die anderen zehn Prozent, die sind sehr wertvoll, das sind Perlen. Ganz besonders für die, die wissen, was sie suchen.

Also braucht man ein Instrumentarium, um damit umzugehen. Das Medium selbst kann ja nichts dafür.

Ja, das stimmt, das Medium selbst hat keine Schuld. Ich ziehe mal eine Parallele zur Physik: Ein physikalisches Experiment ist eine Frage, die man an die Natur stellt. Die muss man erst einmal entwerfen. Es geht darum, ein Leben lang diese Tugend zu entwickeln. Man muss dafür eine bestimmte Kompetenz haben.

Deswegen wollen ja Politik und Wirtschaft bis Ende 2001 alle Schulen ans Netz bringen. Nur so seien die Schüler auf ihre Berufe gut vorbereitet. Was halten Sie von diesem Projekt?

In fünf oder zehn Jahren werden wir erkennen, dass das ein großer Fehler war. Genauso wie bei den vielen anderen Dingen, die wir eingeführt haben. Man darf nicht die Illusion haben, dass der Computer und das Internet das Lernen revolutionieren werden. Auch beim Telefonieren gibt es Tausende von Computern, die im Hintergrund wirken. Aber um zu telefonieren, um eine Verbindung mit Japan oder Argentinien herzustellen, brauchen wir uns nicht mit dem technischen System zu beschäftigen. Wir müssen nur wählen. Genauso ist es mit den Computern. Und deswegen brauchen Kinder und Jugendliche in den Schulen sich nicht allzu früh mit ihnen auseinander zu setzen.

Was bleibt denn auf der Strecke, wenn Kinder stundenlang vor Computern sitzen?

Da gibt es so viele Dinge, die in der Kindheit eine höhere Priorität haben. Ich meine emotional, psychologisch und so weiter. Man muss doch fragen, welchen Zweck Schule hat. Es wird viel geredet über Medienkompetenz. Was wir brauchen ist die Kompetenz, kritisch zu denken und kritisch zuzuhören. Und das beruht alles auf der Kompetenz der Sprache.

Man kann mit dem Computer ja auch kommunizieren. Man kann chatten.

Ja, aber was sagt denn jemand in Detroit/Michigan zu jemandem in Australien? Sie sprechen über Computer-Equipment und das Wetter.

Man hört immer wieder, die Deutschen seien nur bedingt für die Informationsgesellschaft gerüstet. Autoren wie der ehemalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Peter Glotz, plädieren deshalb für einen Kulturwandel und eine Bildungsreform. Glauben Sie das auch?

Ich glaube, Glotz macht einen großen Fehler. Er bewundert die amerikanische Universität, ganz besonders das MIT (siehe Kasten). Man muss sich aber klar machen, dass es nur vier oder fünf Spitzenuniversitäten in Amerika gibt. Aber das MIT kostet 26.000 Dollar Studiengebühren im Jahr. Die normalen Unis in Amerika verdienen kaum ihren Namen.

Brauchen wir eine Bildungsreform in Deutschland?

Die erste Priorität für unsere Schulen ist: Wir müssen das kritische Denken unterstützen. Es geht darum, eine Art Skepsis zu lehren. Damit Kinder und Jugendliche lernen zu fragen und zu hinterfragen. Das Wort Informationsgesellschaft – what the hell does ist mean? Was ist denn überhaupt Information? Was Sie in der Zeitung lesen, was im Computer so rumflackert, das sind Signale. Nur der Mensch kann Informationen herstellen. Er interpretiert diese Signale. Die Kunst zu interpretieren ist die Kunst, kritisch zu denken.

Aber die Geschwindigkeit der Signalübermittlung hat sich geändert.

Es bleibt unser Job, die Signale, die auf uns herabrieseln, zu interpretieren, und zwar kritisch zu interpretieren. Die amerikanische Regierung gibt zu, dass ein Drittel der Bevölkerung functional illiterate, also funktionale Analphabeten sind. Diese Menschen können Straßenschilder lesen und Comic-Hefte, aber sie können in der Zeitung keine Stellenanzeigen lesen. Was ist mit den Signalen, die sie empfangen? Sie interpretieren sie fehl.

Aber vielleicht könnte der Computer helfen, dass Kinder wieder Spaß am Lernen haben.

Ich glaube, es ist eine fatale Illusion, dass das Lernen Spaß machen muss. In Amerika haben wir das Wort edutainment. Alles muss edutainment sein. Und wenn es keinen Spaß macht, dann ist es zu viel für die Kinder. Das ist doch Unsinn. Lernen kann schwer sein. Und in manchen Dingen muss es so sein. Weil eben das Material so ist.

Aber man könnte sich ja vorstellen, dass der Computer fürs Kognitive da ist und der Lehrer mehr Zeit hat fürs Pädagogische.

Ja, das erinnert mich an das Argument: Der Computer übernimmt die Routinesachen und lässt dem, der an ihm sitzt, die Zeit, tiefere Sachen zu denken. Gegenbeispiel: Die Kasse bei McDonald’s ist ganz einfach, da gibt es nur noch Bilder. Aber glauben Sie, die Mädchen hinter der Kasse denken deswegen an Mozart und Hölderlin?

Sie verdammen also den Computer?

Natürlich kann der Computer bei der Bewältigung von großen gesellschaftlichen Problemen helfen. Aber viele denken, der Computer sei wertfrei – es komme nur darauf an, was man mit ihm mache. Ich aber sage, der Computer erbt die Werte der Gesellschaft, in die er eingebettet ist. Manchmal werde ich gefragt, wann wir vernünftige Schulen und Software für Computer haben werden. Und da ist meine Antwort immer: Wenn wir eine vernünftige Gesellschaft haben. In den USA aber ist der Computer überwiegend ein militärisches Instrument. Der größte Teil der Forschung am MIT und die vier oder fünf großen Universitäten, an denen Computerforschung betrieben wird, sind vom Pentagon finanziert.

Sie selbst haben am MIT ja auch Forschung betrieben. Wann ist Ihnen klar geworden, dass Sie das nicht mehr möchten?

Ich bin nicht plötzlich aufgewacht. Die Arbeit am Computer war für mich lange fast wie Entertainment, wie ein Kreuzworträtsel. Oppenheimer hat einmal von der sweet science gesprochen. Doch dann kam der Vietnamkrieg, und ich sah, woran wir arbeiteten. Und manches von dem war geheim. Das gehört sich nicht für eine Universität. Eine Universität sollte ein freier Marktplatz der Ideen sein. Wir machten viele Dinge, für die ich mich schämen muss. Ich dachte an die Haltung der deutschen Wissenschaftler im Ersten Weltkrieg, aber dann besonders an die im Dritten Reich. Da wurden Technik und Naturwissenschaft für wertfrei erklärt. Wernher von Braun hat ja ein schönes Buch geschrieben: „Ziele für die Sterne“. Es soll den Untertitel gehabt haben: „Aber manchmal treffe ich London“. Ich habe mich gefragt: Will ich dem Vorbild der deutschen Naturwissenschaftler folgen? Gerade das MIT ist ja ein Scharnier zwischen Militär und Universität.

Welche Rolle wird der Computer in zwanzig Jahren spielen?

Das hängt davon ab, ob die Gesellschaft immer noch existiert. Erstens glaube ich, dass der Computer aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden sein wird. Da habe ich eine Analogie: Es gibt ein Gerät, das es vor 100 Jahren nicht gab. Es hat die ganze Welt revolutioniert. Heute gibt es davon mehr als Menschen. Sollte dieses Gerät einmal ausfallen, wird innerhalb von zwei Wochen in den Großstädten Blut fließen. Was ist das für ein Gerät? Es ist der elektrische Motor. Genauso selbstverständlich wie der elektrische Motor wird in zwanzig Jahren der Computer sein.

Und Sie beklagen diese Entwicklung?

Wenn wir abdanken, dann ja. Es gibt zum Beispiel Leute, die glauben, dass wir, nachdem wir das Sprachproblem gelöst haben, den Computer als Richter einsetzen könnten. Es gab ein Lied in der DDR: „Die Partei hat immer Recht“. Es kann leicht passieren, dass es dann heißt: Der Computer hat immer Recht. Es ist aber noch etwas anderes, was ich beklage. Ich bedauere den Verlust der Geschichte. Das ist tragisch, das tut mir sehr, sehr weh. Wenn ich Studenten am MIT nach dem Koreakrieg frage, dann haben sie keine Ahnung. Es könnte genauso gut ein Römischer Krieg gewesen sein. Sie wissen davon nichts. Weil Geschichte entwertet ist.

Das kommt daher, dass nur das Ultramoderne zählt. Und das hat auch damit zu tun, dass wir wissen, das Allerneueste wird in einigen Jahren veraltet sein. Das Internet ist dafür mitverantwortlich. Suchen Sie mal dort etwas über den Ersten Weltkrieg. Da finden Sie nicht viel. Das kommt natürlich einmal daher, dass das nicht viele Leute interessiert. Das liegt aber auch daran, dass diese Dokumente nicht digitalisiert vorliegen. Ich denke, ich hab das schon gesagt, die höchste Priorität hat die Sprache, die Fähigkeit, sich zu artikulieren. Als zweites kommt Geschichte. Man muss wissen, wer wir sind, woher wir kommen. Es werden heute ungeheure Summen für Computer bereitgestellt. Und inzwischen sind die Klassen zu groß, die Lehrer überfordert und die Toiletten verschmutzt. Aber wenn Geld da ist, wird es für Computer verschwendet.

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