: Fast wie im Film. Fast.
Es begann wie in diesem Zivilcourage-Spot: Eine Bahn, Skins, ein dunkelhäutiges Opfer, mehrere Mitreisende. Nur dass es in Linie 7 anders endete
aus Dresden GEORG LÖWISCH
Ein Hitlergruß. Kraftvolle Schritte, eigentlich zu schnell, wenn man nur in der Bahn zu einem Platz geht. Springerstiefel, schwarze Jeans, Bomberjacke, kahl geschorene Haare, Zigarette zwischen den Lippen. Ein zweiter mit Bierdose. Sie steuern durch den Gang des Nahverkehrszuges zu einem Schwarzen, der Zeitung liest. Sie lassen sich in Sitze daneben und gegenüber fallen, eine junge Frau schaut argwöhnisch rüber. Qualmend bohrt sich die Zigarette des ersten in die Zeitung. Der Mann fährt zusammen, da gießt ihm ein Skin zwei Bier über die Zeitung. Er springt auf, die Skins drücken ihn auf den Sitz zurück.
„Hey!“, ruft die junge Frau. Ihr Hinterkopf schlägt auf, als die beiden Skins sie auf den Boden schubsen. Ein Fahrgast mit randloser Brille sieht alarmiert von seiner Kunstzeitschrift auf, ein älterer Herr mit Janker und Trachtenhut schaut seine Frau an, zwei junge Burschen wechseln Blicke. Der Trachtenhutmann guckt noch mal zu seiner Frau, ihr Blick wandert zur Notbremse. Sollen wir? Der Senior grinst. Eine Vollbremsung, ein Ruck und schon rumpeln Skin eins und zwei zusammen und werden in die Ecke geschleudert.
Der 60-Sekunden-Film wurde 1997 gedreht. Als Rechtsextremismus letzten Sommer wieder Thema wurde, brachten die Bundesregierung und die Landesregierung Schleswig-Holstein den Film im Herbst noch mal in über tausend Kinos. Zurzeit wird er auf Videokassetten an Bildungseinrichtungen und Jugendstätten in ganz Deutschland verschickt, um zu zeigen, was alle fordern und wenige tun.
Nicht wegschauen in der Bahn, das steht für Zivilcourage. Das ist die Beispielsituation für Kampagnen, das Sinnbild für Politikerreden, der Ort, an dem sich entscheidet, wer sich einmischt und wer aus dem Fenster starrt, peinlich berührt von sich selbst. In der Bahn kann niemand die Straßenseite wechseln. In der Enge zwischen den Sitzreihen treffen Leute zusammen, die sich sonst meiden. Ein geschlossener Raum lädt sich schnell mit Angst auf. Eingreifen statt Wegsehen. Deshalb hat auch der Filmemacher Cay Wesnigk für seinen kurzen Film einen Nahverkehrszug ausgesucht. Er sagt: „In der Bahn muss man sich verhalten.“
Christiane hat den Film nicht gesehen. Obwohl er auch in Dresdner Kinos gelaufen ist. Aber sie kennt eine andere Szene aus einer Straßenbahn. Sie war Teil dieser Szene. Weil die mit den Springerstiefeln in ihrer Geschichte keine Schauspieler sind, ist es sicherer, in der Zeitung nicht ihren richtigen Namen zu nennen. Ihre Geschichte ähnelt dem Film in einigen Punkten, aber es gibt auch starke Unterschiede. Man muss mit ihrer Version auskommen. Andere Zeugen haben sich nicht gemeldet.
Christianes Geschichte ereignete sich am 2. November. Sie begann an der Haltestelle Abzweig nach Hellerau so gegen 20.30 Uhr und endete ein paar Minuten später an der Charlotte-Bühler-Straße. Christiane kam von der Arbeit. In der Linie 7 saßen mit dem Gesicht zu ihr drei junge Frauen mit Kurzhaarfrisur. Sie erzählt: „Hochgeklappte, ganz enge Jeans, dass man die Springerstiefel schön sieht mit den weißen Schnürsenkeln.“ Hinter Christiane sitzt eine Frau mit sehr dunkler Hautfarbe, dabei eine Reisetasche, und schaut aus dem Fenster. Als ob sie nicht genau bemerkt, dass die drei über sie reden. Dass sie gemeint ist, als die drei Orang-Utan-Grimassen schneiden. „Der Affe aus dem Urwald.“ Die Frau steht auf. Ihr fällt etwas aus der Manteltasche. „So, Ausländer machen also alles dreckig.“ Ein Zettel oder ein Fahrschein. „Lassen ihren Müll hier liegen.“ Die Frau bückt sich rasch, hebt das Papier auf. „Lassen sich Kinder andrehen, um hier bleiben zu können.“
Das war dieser Moment. Christiane hat es sich nicht vorher überlegt. „Es gibt auch andere Sachen, wo man sich nicht einmischen muss. Wenn Meier Schulze auf den Fuß tritt und der andere sagt: ,Was soll denn das?‘, ist mir das egal. Aber das war dann dieser Punkt, wo ich sage: Es reicht.“
Christiane schmückt ihre Schilderung nicht aus. Sie hat nicht den Instinkt des Filmregisseurs, der routiniert Notbremsen als Symbole einsetzt. Sie hat noch nie ein Interview gegeben und ist auch in keiner Ausländerinitiative oder antirassistischen Gruppe engagiert. Die 21-Jährige arbeitet als Laborantin in einem Elektronikunternehmen, wo sie Mikrochips unterm Mikroskop prüft.
In der Straßenbahn. Sie sagt den dreien, dass sie die Sprüche daneben findet. „Hört auf, passiert doch jedem, dass mal was runterfällt.“ Die Springerstiefel kommen näher. „Wie kannste so was unterstützen? Du siehst doch, was hier los ist.“ – „Ich seh gar nichts.“ Eine ist schon an ihr vorbeigegangen, sie packt die Frau mit der dunklen Haut an den Armen und schüttelt sie. Christiane steht auf, lässt die zweite nicht durch. Sie spürt den Schmerz vom ersten Tritt einer Stahlkappe. Sie schubst zurück.
Die Dresdnerin beschreibt erstaunlich locker. Sie sagt auch, dass sie nicht direkt Angst gehabt habe. „Es ist nicht so, dass man sich ganz klein fühlt. Eher in Rage, wie mit ganz viel Adrenalin.“
In der Bahn ist es eng. Der Stahlkappentritt tut „schweineweh“. Christiane denkt: Jetzt müssen wir raus. Unendlich langsam fährt die Straßenbahn in die Haltestelle ein. Sie drückt den blauen Türöffner. Ein Ring aus roten Lämpchen leuchtet – die Tür bleibt zu. „Ihr steigt schon aus?“ Wieder nur rote Lämpchen. „Jetzt wird's doch gerade lustig.“ Christiane drückt und drückt – grün. Sie wird an den Haaren festgehalten, dreht sich um, bekommt eine Faust ins Gesicht, tritt mit dem Fuß zurück, irgendwie schließen sich die Türen. Die drei Stiefel-Frauen sind weg.
Christiane glaubt nicht, dass die angegriffene Frau Angst um ihr Leben hatte. Obwohl die Frau weggerannt ist, so schnell, wie sie noch nie jemanden hat wegrennen sehen. Sie sagt skeptisch: „Ich will das auch gar nicht untertreiben, aber ums Leben gefürchtet? Ich weiß nicht.“
Vielleicht hat Christiane die Situation an diesem Abend nicht als lebensbedrohlich wahrgenommen. Rein rational betrachtet ist es aber gar nicht abwegig, in einer Dresdner Straßenbahn um sein Leben zu fürchten. 1991 wurde in Dresden der Mosambikaner Jorge Golombai aus einer Bahn gestoßen. Es war die Linie 7. Golombai starb, drei Skinheads wurden wegen fahrlässiger Tötung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Am Albertplatz, zehn Schritte von den Schienen entfernt, steht ein Sandsteinquader als Gedenkstein. 1994 wurde er umgekippt, 1995 mit Hakenkreuzen beschmiert, 1996 mit einer Inschrift versehen: „Wir kriegen euch alle.“
Zwei Haltestellen vom Albertplatz entfernt sitzt Detlef Gasch in einem Zimmer in der Polizeidirektion. Er ist Polizeihauptmeister in der Pressestelle. Gasch kann sich noch an den Fall vom 2. November vergangenen Jahres erinnern. Jeden Morgen ab 7 Uhr muss er zwischen hunderten Ereignissen eine Handvoll auswählen, die er in den Polizeibericht aufnimmt. Am 3. November findet er zwischen Handtaschenraub und Verkehrsunfällen die Geschichte aus der Linie 7. Ihm fällt auf, dass es Frauen gewesen sind. Er vermutet, dass die drei zur Tatzeit um 20.25 Uhr noch kaum betrunken gewesen sein können. Dann liest er, dass alles erst um 22 Uhr auf dem Polizeirevier gemeldet wurde. Gasch sagt: „Da habe ich gedacht: Diese Drecksäcke.“ Er meint die drei Frauen: Bei fast anderthalb Stunden Vorsprung haben die Täterinnen gute Chancen, davonzukommen.
Der Polizist hat die Erfolgsaussichten richtig eingeschätzt. Es hat sich nichts mehr getan. Christianes Vernehmung. Fotos vom geschwollenen Gesicht, den Prellungen am Bein, den Kratzern am Hals. Staatsschutz eingeschaltet. Ermittlungsverfahren wegen schwerer Körperverletzung. Zeugenaufruf. Ergebnislos, aussichtslos.
Eine Sprecherin der Verkehrsbetriebe teilt mit, der Fahrer der Bahn habe nichts bemerkt. Er habe sich vermutlich auf die Fahrt konzentriert.
Es brachte auch nichts, dass die Polizei Christiane ein paar dutzend Fotos von bereits aufgefallenen Frauen vorlegte, auf die die Beschreibung passte. Nichts. Christiane war enttäuscht, wollte, dass die drei ermittelt werden, hofft immer noch, sie wiederzutreffen. „Für die war das sonst gar nichts Besonderes, was die mit mir gemacht haben.“
Christiane ärgert sich, dass sie erst nach Hause und nicht sofort zur Polizei ging. Dass sie nicht die Notbremse gezogen hat. Oder die anderen Fahrgäste angesprochen hat. Aber da war auch nicht Regisseur Wesnigks Sympathieträger mit der randlosen Brille, es gab keinen beherzten Trachtenhutmann und auch keine jungen Burschen. In der Linie 7 saßen am 2. November nur noch ein paar Gestalten, die die Sache nichts anging.
Eingreifen fällt auf. In seinem Polizeibericht stellte Detlef Gasch den Fall damals an die erste Stelle. „Um einfach mal zu zeigen, dass es auch Leute gibt, die einschreiten.“ Ein Redakteur der Sächsischen Zeitung lobte in einem Kommentar: „Wie beruhigend, dass es auch noch Menschen mit Mut gibt.“ Froh sind auch die Politiker, wenn sie couragierte Bürger vorzeigen können. Letztes Jahr ehrte die Brandenburger Landesregierung ein Ehepaar, das einem Mann aus Sierra Leone in einer Straßenbahn gegen zwei Rechtsradikale geholfen hatte. Sie bekamen das „Band für Mut und Verständigung“. Die sächsische Staatsregierung schickte Christiane eine Einladung zum Neujahrsempfang des Ministerpräsidenten, auf dem sich heute Biedenkopf mit verdienten Bürgern umgeben wird. Erich Loest, der Leipziger Schriftsteller. Jutta Müller, die Trainerin von Kati Witt. Christiane, die Frau aus der Linie 7.
Christiane wippt mit den Beinen. Sie ist verlegen. Die Einladung kam ohne ihr Zutun, ebenso wie die Zeitungsanfrage. „Ich will bloß nicht als Heldin dargestellt werden.“ Am Tag nachdem sie verprügelt wurde, wollte sie möglichst kein Aufsehen erregen, weil sie erst drei Wochen vorher an ihrer neuen Arbeitsstelle angefangen hatte. „Das war mir so unangenehm mit dem blauen Auge, dass dann vielleicht jemand denkt, ich bin das Schlägerweib Nummer eins.“
Der Kinofilm lässt die Zuschauer das Happyend auskosten. Skin eins und Skin zwei werden von einer Übermacht aufrechter Fahrgäste aus dem Zug gedrängt, sie purzeln auf eine Kuhweide, die Türen schließen sich, die Vögel zwitschern, die Kuh macht Muh.
Christianes Geschichte endet anders. Die Türen hatten sich auch geschlossen. Aber ausgestiegen waren nicht die Rechten, sondern die junge Frau, die eingegriffen hatte. Statt der lustigen Kuhweide gab es für die Schlussszene nur die Haltestelle, daneben eine Straße und ein stillgelegtes Maschinenwerk. Das Opfer war weggerannt. Christiane dachte, vielleicht warten die auf mich. Nach 15 Minuten kam eine Bahn. Aber an der nächsten Station stieg niemand ein. Christiane fuhr nach Hause.
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