: Den Sozialismus gibt es nur einmal im Jahr
Bei der Gedenkdemonstration für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin überwindet das Bekenntnis zur Solidarität selbst den Generationenkonflikt. Es ist schöner als in der DDR: Heute darf man mit Freunden kommen und muss auch nicht mehr winken wie die Teletubbies
von ANDREAS SPANNBAUER
Der Kommunismus? Johanna Mehner zuckt die Achseln. Nein, als Kommunistin würde sich die 17-jährige Schülerin aus Berlin-Mitte nicht bezeichnen. „Die Zeiten sind schließlich nicht mehr so wie früher“, sagt das Mädchen mit den Schlaghosen und dem roten Palästinensertuch. Dann strebt sie zielsicher mit einer roten Nelke in der Hand auf die „Gedenkstätte der Sozialisten“ zu, um an zwei Kommunisten zu erinnern, die im Januar 1919 ermordet wurden: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.
An diesem Sonntagvormittag, an dem jedes Jahr rund 100.000 Menschen zu den Gräbern der getöteten KPD-Gründer strömen, ist selbst der Generationenkonflikt aufgehoben. Auch Johanna ist, wie viele andere, zusammen mit ihren Eltern da. „Ich finde es super, dass hier drei Generationen zusammenkommen“, sagt sie.
Schon hundert Meter vor den Gräbern staut sich der Zug, nicht nur wegen der Baustelle, die in Berlin selbst auf dem Weg zum Friedhof noch anzutreffen ist. Der Platz vor der Gedenkstätte ist rappelvoll, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) hat eine Singegruppe in Blauhemden auf einem Lkw postiert. Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) meldet per Lausprecher, dass die Stimmung unter den Anwesenden gut ist. Das Ereignis ist Stadtgespräch.
Schon vor 1989, als die DDR-Führung ihren Ikonen noch mit einem Staatsakt gedachte, war Johanna mit dabei. „Anfangs mussten wir sie mitnehmen, weil wir das kleine Kind nicht alleine zu Hause lassen konnten“, erzählt ihr Vater Manfred, ein 57-jähriger Projektleiter für Stadtentwicklung. Doch längst kommt Johanna freiwillig hierher. „Ich will zeigen, dass ich mit dieser Gesellschaftsform, dem Kapitalismus, nicht einverstanden bin“, begründet sie fast schon resolut. „Ohne Geld geht gar nichts.“ Ihre Vision: „Eine Welt, in der jeder so lebt, wie er will, aber nicht nur an sich denkt.“
Johanna ist vielleicht eine typische Vertreterin einer Generation von Jugendlichen, die die DDR nur noch bis zur Einschulung erlebt haben – lange genug, um jene Ahnung von Kollektivität zu erfahren, die viele Ostdeutsche in der Bundesrepublik vermissen. Eine Einstellung, die Johannas Vater heute noch immer im Osten stärker verbreitet glaubt und die in der Solidarität im Wohnviertel oder im Betrieb ihren Ausdruck finde.
„Heute zählt nur, wer sich durchsetzt“, sagt Manfred Mehner und hebt beide Ellbogen an. Seine Frau Ute aber weist ihn vorsichtshalber darauf hin, dass auch im Kollektivismus der DDR Glück und Unglück nahe beieinander lagen: „Man musste mit Leuten aus dem Betrieb herkommen, die man nicht mochte, die Gräber von Karl und Rosa waren abgesperrt und wir mussten winken wie die Teletubbies.“ Trotzdem hegt auch sie die Sehnsucht, dass nicht der Ellbogen das wichtigste Glied des Menschen sein muss.
Hier, an den Gräbern von Luxemburg und Liebknecht, sehen viele die Gelegenheit, dieses gegenindividualistische Bekenntnis zu artikulieren. Nostalgie? Gewohnheit? Sehnsucht nach der DDR? Johannas Vater hält dies für eine unzureichende Beschreibung: „Viele alte Menschen kommen, denen das Laufen schon schwer fällt. Aber sie wollen für eine gerechtere Gesellschaft auf die Straße gehen.“
Mit den politischen Gruppen, die vor dem Friedhof ihre Stände aufgebaut haben und marktschreierisch für die „Arbeiterrevolution von Berlin bis Ankara“ werben, hat Johanna nicht viel gemein. „Auf dieser Veranstaltung würde ich mich eher auf die Seite der Anarchisten schlagen“, meint sie. Die „Diktatur des Proletariats“ findet das zierliche Mädchen schlichtweg zu hart. „Wenn Anarchie funktionieren würde, wäre sie genial. Aber leider funktioniert sie nicht.“ Einen Lieblingspolitiker hat sie nicht mehr, seit Gregor Gysi abgetreten ist.
Am Gedenkstein mit der Aufschrift „Die Toten mahnen uns“ werden die Blumen niedergelegt. „Ich kann mir immer nicht merken, wo der Grabstein von Rosa Luxemburg ist“, klagt Johanna. Wenig später ist die Familie wieder beisammen. „Ich hab bei Ernst Thälmann abgelegt“, sagt Manfred Mehner und schmunzelt. Die Mutter widmet ihre Nelke dem kommunistischen Schriftsteller Erich Weinert.
Am Würstchengrill vor dem Friedhof wird wenig später die Vergangenheit von der Gegenwart eingeholt. Mit besorgter Miene möchte eine Kundin angesichts der brutzelnden Würste wissen: „Ist das auch reines Schweinefleisch?“
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