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Die peinliche Vergangenheit

Ob die 68er-Bewegung einmal als erfolgreiche Revolte in die Geschichte eingehen wird, ist noch offen. Ihre einstigen Protagonisten scheinen daran längst nicht mehr zu glauben

Bieten die herrschenden Verhältnissein Deutschlandkeinen Anlass mehrzum Widerstand?

Wer verzeihen darf, hat Recht gehabt. Wer um Verzeihung bitten muss, war im Unrecht und erkennt damit zugleich Verhalten und Sichtweise des ehemaligen Gegners als richtig an. Ist das endgültige Urteil in der Schuldfrage erst einmal gesprochen, dann definiert es nicht nur die Vergangenheit, sondern es beeinflusst auch Gegenwart und Zukunft.

Die Deutungshoheit über das Gestern verspricht die Macht für morgen: Deshalb war die Position des moralischen Siegers der Geschichte schon immer heiß umkämpft. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass viele konservative Leitartikler in den letzten Tagen gerne bereit gewesen sind, Joschka Fischer seine militante Vergangenheit öffentlich als „Jugendsünde“ zu vergeben.

Sollte es bei den bisher bekannten Vorwürfen bleiben, dann dient der populäre Politiker den Interessen seiner ehemaligen Gegner in der Rolle des geläuterten Sohnes erheblich besser als mit einem erzwungenen Rücktritt – solange er sich gegen die erstickenden Umarmungen nicht wehrt. Das ist vom Außenminister nicht zu erwarten. Er hat im Laufe seines Lebens schon häufiger bewiesen, dass er zu weitgehendem Verrat an sich selbst bereit ist, wenn er dafür weiterhin mit den Großen spielen darf.

In der Süddeutschen Zeitung beschreibt Willi Winkler die Biografie von Joschka Fischer als den Lebenslauf eines „typischen deutschen Opportunisten“, den außer der eigenen Macht niemals etwas interessiert habe. Dem ist nichts hinzuzufügen. Warum aber lassen sich auch so viele andere in diesen Tagen eine derart geschichtsklitternde Umdeutung ihrer eigenen politischen Vergangenheit gefallen, wie sie Christian Semler in dieser Zeitung minutiös analysiert hat – oder tragen sogar selbst dazu bei?

Ganz einfach: Vielen ehemaligen Linken ist diese Vergangenheit heute peinlich. Nicht etwa deshalb, weil sie die damals angestrebten Ziele inzwischen entweder für grundsätzlich falsch oder für verwirklicht hielten. Inhaltlich wird über den Kampf gegen Imperialismus und Ausbeutung sowie für Demokratisierung und die Gleichberechtigung aller Menschen und Völker ja so gut wie überhaupt nicht mehr gesprochen. Ob dieser Kampf berechtigt oder irregeleitet war, ob er infolge der historischen Entwicklung gar überflüssig geworden ist: das spielt in der öffentlichen Auseinandersetzung derzeit keine Rolle. Peinlich ist den Demonstranten von gestern etwas ganz anderes. Sie haben an den Erfolg ihrer Aktionen geglaubt und dafür sogar Leidenschaft aufgebracht. Wie naiv.

Der Vorwurf der Naivität ist im geistigen Klima dieser Republik das Totschlagargument schlechthin. Wer unter der Gestaltung von Politik lediglich das bestmögliche Management konkurrierender Sachzwänge unter Beachtung des Primats der Ökonomie versteht, dem muss jede Form des Widerstands absurd vorkommen. Eine Protestbewegung setzt die gemeinsame Überzeugung ihrer Anhänger voraus, dass Verhältnisse sich auch gegen die Interessen der jeweils Herrschenden und die sie tragenden Institutionen verändern lassen. Diese Überzeugung ist den meisten Systemkritikern von einst in den letzten Jahren abhanden gekommen. Wer sich engagiert, wirkt lächerlich. Und wer möchte schon gerne eine lächerliche Figur abgeben?

So lassen sich Anhänger der Protestbewegung von damals jetzt ausgerechnet vom ehemaligen Bild-Chefredakteur Peter Boenisch verteidigen und nehmen die Fotos des prügelnden Fischer zum willkommenen Anlass, endlich all ihre Aktionen öffentlich als Jugendsünden zu entsorgen. Ironischerweise hat Boenisch übrigens einen der differenziertesten Kommentare geschrieben, die überhaupt zum Thema zu lesen waren. Immerhin ist darin von einer „beiderseits gewalttätigen und hasserfüllten Vergangenheit“ die Rede. Respekt. Viele andere Stellungnahmen erwecken den Eindruck, Westdeutschland sei früher eine Heimstatt der Seligen gewesen, in der ohne einige linksradikale Gewalttäter ein dauerhafter kollektiver Glücksrausch geherrscht habe.

Das war nicht der Fall. Der Staat hat die Eskalation der Lage damals durch repressive Härte gegen seine Kritiker mit verschuldet. Gewaltbereit ist stets nur eine sehr kleine Minderheit der westdeutschen Linken gewesen. Aber das Verständnis für dieses Gefühl ohnmächtiger Wut, die schließlich in Gewalt mündete, reichte lange bis weit ins bürgerliche Lager hinein – also in Kreise, die selbst niemals auch nur einen Stein wurfbereit in die Hand genommen hätten, von anderen Waffen ganz zu schweigen. Heinrich Böll, dem eine Neigung zur Gewalt schwerlich unterstellt werden kann, hatte Jahre später gute Gründe, öffentlich freies Geleit für die ehemalige Journalistin Ulrike Meinhof zu fordern. Die Polizei schoss schnell in jenen Tagen.

Ist Gewalt ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele? Wo beginnt sie? Von wem geht sie aus? Ist staatliche Gewalt immer gerechtfertigt, solange ein Gemeinwesen demokratisch verfasst ist? Kann gewaltsamer Widerstand gegen Waffenlieferungen erlaubt und sogar geboten sein, oder ist er stets sinnlos und darüber hinaus unmoralisch? Ohne die französische Militärhilfe für Ruanda hätte das dortige Regime den Völkermord von 1994 vermutlich nicht vorbereiten können. Darf die Wahrung der Menschenrechte mit einem Angriffskrieg durchgesetzt werden? Der deutsche Außenminister, der sich von seiner militanten Vergangenheit als Straßenkämpfer distanziert, vertritt diese Meinung.

Die Position desmoralischen Siegerswar in der Geschichteschon immerheiß umkämpft

Seit je ist die Gewaltfrage eine Kernfrage der Politik. Die Ebene der Auseinandersetzung darüber sagt viel über das intellektuelle Niveau einer Gesellschaft aus. In Deutschland wird gegenwärtig vor allem über die Form diskutiert, in der sich Joschka Fischer bei seinem Opfer von einst entschuldigen soll.

In den Anfängen einer Bewegung lässt sich ihr Ende niemals sicher vorhersagen. Das gilt für die Französische Revolution ebenso wie für den Freiheitskampf von Mahatma Gandhi. Und es gilt eben auch für die Studentenbewegung, deren Anhänger immerhin einmal geglaubt haben, die Machtverhältnisse auf der ganzen Welt verändern und den Kapitalismus überwinden zu können. Welche Bedeutung wird in 50 Jahren den Protesten in Seattle gegen die neue Weltwirtschaftsordnung beigemessen werden? Oder denen in Prag gegen einen neuen Fernsehintendanten? Wer weiß. Hierzulande finden derzeit auf der Straße keine Ereignisse statt, über deren künftige Wirkung sich nachzusinnen lohnte. Bieten also die herrschenden Verhältnisse in der Bundesrepublik keinen Anlass mehr zum Widerstand? Diese Frage wird von denen bejaht, die den Kampf um die Position des moralischen Siegers der Geschichte für sich entscheiden konnten. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis sind das nicht die Achtundsechziger. Inzwischen sieht es so aus, als hätten sich die meisten von ihnen nicht einmal um diesen Sieg bemühen wollen.

BETTINA GAUS

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