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Nicht alle wollen sich abrackern

In den westlichen Ländern ist klar: Nur die Erwerbsarbeit gibt dem Leben einen Sinn. Doch das muss nicht unbedingt so sein, wie Jürgen Kockas und Claus Offes Band „Geschichte und Zukunft der Arbeit“ vielfältig beweist

Zwar wurde das Thema Arbeitslosigkeit bei Umfragen vom Platz eins der wichtigsten Probleme verdrängt; die Rente erscheint vielen Menschen jetzt wichtiger. Doch nach wie vor zweifelt hierzulande kaum jemand daran, dass Erwerbsarbeit das Rückgrat der Gesellschaft darstellt. Diesen Nimbus hat sie allerdings längst nicht in allen Kulturen und zu allen Zeiten gehabt, wie der von Jürgen Kocka und Claus Offe herausgegebene Sammelband „Geschichte und Zukunft der Arbeit“ eindrücklich belegt. Die sorgfältig edierte Aufsatzsammlung fasst mehr als 20 Kongressbeiträge zusammen und bietet eine gut geordnete Fülle von Material, die die häufig von politischer Kurzatmigkeit geprägte Debatte erheblich bereichern wird.

In traditionellen Sammler- und Jägergesellschaften wurde keineswegs so viel für die Selbsterhaltung gerackert, wie sich das viele Menschen der Neuzeit vorstellen. „Sie hatten viel ‚Freizeit‘, um etwa am Lagerfeuer beisammenzusitzen und sich zu unterhalten“, schreibt Christopher Hann. Das gesellschaftliche Leben fand vorwiegend jenseits der Arbeit statt. Auch in der Antike war gesellschaftliche Teilhabe gerade nicht an einen Job gebunden, sondern im Gegenteil an die Voraussetzung, dass man frei von mühseligen, fremdbestimmten Tätigkeiten war. Auf Einkünfte durch Arbeit angewiesen zu sein galt eher als sklavenähnlicher Zustand, wie Wilfried Nippel aufzeigt. Erst in der Folge der Reformation gewann Arbeit dann eine unzweideutig positive Wertung, die im späten 20. Jahrhundert dann in der Vorstellung ihrer zentral-sinnstiftenden Funktion gipfelte.

Im traditionellen Madagaskar wird Arbeit überhaupt nicht als spezieller Typ von Tätigkeit angesehen, und so gibt es auch nicht einmal ein Wort dafür. Alle Lebensbereiche eines Bauern sind untrennbar miteinander verwoben. Auch die malaysische Gesellschaft hatte vor der Kolonialisierung offenbar ein ganzheitliches Lebens- und Arbeitsbild, das von den auf die Anhäufung von Überschüssen fixierten Briten als Faulheit diffamiert wurde. Wie sich die dortige Gesellschaft nach dem Aufeinanderprallen der verschiedenen Arbeitsbegriffe bis in die Gegenwart gewandelt hat, beschreibt Norani Othman in seinem sehr kenntnisreichen Aufsatz. Aber auch, wer sich über Arbeit in Afrika oder Japan informieren will, findet in dem über 500 Seiten dicken Sammelband spannende Informationen.

Dessen zweiter Teil widmet sich dem Phänomen der Massenarbeitslosigkeit und gibt einen Überblick über die gegenwärtig diskutierten Therapievorschläge. Rolf Heinze und Wolfgang Streek, die auch ein Grundsatzpapier fürs „Bündnis für Arbeit“ geschrieben hatten, prangern erneut eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik an. Mit einer Verknappung der Arbeitskräfte zum Beispiel durch Frühpensionierungen sollte ein scheinbar überfüllter Arbeitsmarkt entlastet werden. Doch tatsächlich habe sich durch die dadurch weiter erhöhten Sozialkosten das Problem nur noch verschärft, so Heinzes und Streeks Analyse. Sie fordern einen Niedriglohnsektor, während Gert G. Wagner keynesianistisch die Nachfrage des Staates ankurbeln will. Warnfried Dettling vertritt dagegen eine Position, die die traditionelle Vorstellung von Erwerbsarbeit als historisch überholt einordnet und gesellschaftliche Teilhabe jenseits von Erwerbsarbeit sucht – Stichwort Bürgerarbeit. Dabei verschweigt der Autor nicht, dass die finanzielle Frage eines solchen Konzepts noch weitgehend ungeklärt ist.

Schließlich widmet sich der Band auch noch der Frage, wie das von vielen heftig beklagte Ende des „Normalsarbeitsplatzes“ alle gesellschaftlichen Bereiche verändert: Nicht nur Familienstrukturen und Geschlechterverhältnisse wandeln sich fundamental, sondern auch Recht, Kultur, Bildung, Städtebau und Politik. Wohin die Reise mittelfristig geht, ist indessen noch nicht klar. „Die Konturen der Zukunft zeichnen sich nur wie durch dichten Nebel hindurch ab“, bemerkt Herausgeber Jürgen Kocka. Die meisten Autoren gehen allerdings davon aus, dass ein „Ende der Erwerbsarbeit“ auf keinen Fall bevorsteht. Ob diese Überzeugung allerdings nur Ausdruck der in unserem Kulturkreis gegenwärtig fest verankerten Überzeugung ist, „dass es die Erwerbsarbeit ist, die das organisierende Zentrum eines gelungenen Lebens sein und bleiben muss“, fragt Claus Offe in seinem Schlusswort – und verweist damit zurück auf die zu Anfang aufgefächerten historischen und weltweiten Erfahrungen.

Ganz bewusst scheinen die Herausgeber bei der Wahl des Titels „Geschichte und Zukunft der Arbeit“ auf die Erwähnung der Gegenwart verzichtet zu haben, obwohl die Fragestellungen natürlich genau daraus resultieren. Durch die Perspektive rückwärts und vorwärts aber lässt sich mehr über die momentane Phase herausfinden als durch Beschreibungen, die das Arbeitsbild des europäischen Industriezeitalters zum quasi-natürlichen Zustand erheben. ANNETTE JENSEN

Jürgen Kocka/Claus Offe: „Geschichte und Zukunft der Arbeit“, 510 Seiten, Campus, Frankfurt a. M. 2000, 58 DM

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