: Russische Sitten in Preußen
Wie der Preußenkönig die Mauer abreißen lässt und sich die Königin als Projektentwicklerin betätigt. Ein Spaziergang durch die neue Mitte anlässlich der Krönung Friedrichs des Ersten am 18. Januar 1701
von UWE RADA
Wehe dem, den es arglos in diese Stadt verschlägt: Für einen Fremden, schreibt Julius Knüppeln in seiner „Charakteristik von Berlin“, hat die Stadt „ein klägliches Ansehen, denn man findet elende, gestützte Häuser, wüste unbebaute Plätze, große Misthaufen vor den Türen, und die Bewohner tragen das Zeichen äußerster Bedürftigkeit auf der Stirn.“
Vielleicht waren es ja die von Knüppeln namentlich erwähnten Problemquartiere am Schlesischen oder Cottbusser Tor, die den preußischen Kurfürsten Friedrich dazu bewogen, sich am 18. Januar 1701 nicht in Berlin, sondern in Königsberg zum König von Preußen krönen zu lassen. Warum aber hat Friedrich dem ganzen Elend nicht einfach den Rücken gekehrt und sich der neuen Mitte zugewandt, der Spandauer Vorstadt zum Beispiel, in der es durchaus vergnüglicher zuging als rund um die Fischerinsel und auf den „wüsten, unbebauten Plätzen“?
Verlässt man die Stadt durch das Spandauer Tor, eine acht Meter hohe Wallanlage nebst einem 50 Meter breiten Wassergraben und zwei Zugbrücken, ist man mittendrin im vorstädtischen Vergnügen. Schänken, Kaffeegärten, mitunter noch ein paar frei laufende Gänse. Kein Zweifel: Das ist eine bessere Gegend, die Häuser sind gerade neu gebaut und frisch verputzt, die Rinnsteine noch nicht zugemüllt. Preußische Ordnung statt russische Sitten. So verwundert es auch nicht weiter, dass sich vor allem Königin Sophie Charlotte nach der Rückkehr von den Krönungsfeierlichkeiten in Königsberg darum bemühte, das „Neue Berlin“ gedeihen zu lassen.
Schon 1694, die Bebauung der Spandauer Vorstadt hatte gerade begonnen, trug sich Sophie Charlotte, damals noch Kurfürstin, mit dem Plan, die Oranienburger Straße, die zu dieser Zeit noch Spandauer Heerweg hieß, nach Westen zu verlagern. Der Grund dafür waren weniger städtebauliche Überlegungen oder ein umfassendes Planwerk Spandauer Vorstadt, sondern das kurfürstliche Geldsäckel. Dem an der Ecke zur späteren Monbijoustraße gelegenen „kurfürstlichen Schenkkrug“ sollte nämlich zu „mehr Nahrung verholfen“ werden. Allein, das Unterfangen blieb ohne Erfolg. Der Plan der Kurfürstin scheiterte am Widerstand der Grundbesitzer, die ihre Gärten bereits zur weiteren Bebauung eingezäunt hatten.
Dies zumindest schreibt Friedrich Nicolai, und der muss es wissen. Schließlich war er einer der ersten Journalisten, die sich mit dem „Neuen Berlin“ beschäftigten. Während andere noch der vergangenen Bedeutung Berlins vor den Krönungsfeierlichkeiten nachtrauerten, präsentierte sich der Aufklärer in seiner „Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam“ als einer der wichtigsten Partner für das neue Berlin.
Und als akribischer Beobachter des Baugeschehens rund um den Hackeschen Markt. Das hatte bereits 1694, also sieben Jahre vor der Thronbesteigung, in der Kirchgasse, der späteren Sophienstraße und der Großen Hamburger Straße begonnen. Drei Jahre später, schreibt Nicolai, konnte man am Spandauer Heerweg bereits die ersten vier Häuser bewundern. Und spätestens 1702, Friedrich hatte sich gerade im Schloss Friedrichsfelde niedergelassen, wurde die Straße vor dem Spandauer Tor endgültig in Oranienburger Straße umbenannt. Neue Zeiten erfordern auch neue Begriffe.
Und neue, große Visionen von der Zukunft. Längst war die preußische Festungsanlage, die der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm rund um die Doppelstadt Berlin und Cölln hat bauen lassen, obsolet geworden. Im Westen der Stadt, rund um die Dorotheen- und die Friedrichstraße, waren schon neue Stadtviertel entstanden, und im Norden war bereits durch den Weinberg des Weinmeisters Stohse ein Weg angelegt worden: die Weinmeistergasse, aus der später die Weinmeisterstraße wurde. Weitsichtig wie das Königspaar war, wusste es nur zu gut, dass sich das neue Berlin hier, im Straßengeviert zwischen Oranienburger und Weinmeisterstraße entwickeln würde.
Eines Tages sprach Friedrich der Erste deshalb, die Mauer müsse weg. Der Preußenkönig konnte sich dabei der Unterstützung seiner Untertanen sicher sein. Die Stimmen der Mauergegner wurden immer größer. Schon beim Bau der Wallanlagen, entworfen vom holländischen Architekten Johann Gregor Memhard, war der Unmut der Berliner nicht zu übersehen. Immerhin hatte sich ein Viertel der Bevölkerung täglich zum „Schanzen“ einzufinden. Kurzerhand beschloss Friedrich deshalb, Berlins bis dato teuerstes Bauwerk wieder einzureißen. Der fanzösische Berlin-Korrespondent Friedrich Lucac quittierte dies mit der Bemerkung: „Was in einem Jahr gebaut worden, fällt im andern wieder ein.“ So war das schon damals, zum Beginn des Königreiches in Preußen.
Auch Sophie Charlotte bewies früh, dass in ihr nicht nur eine gute preußische Königin steckte, sondern auch eine tatkräftige Projektentwicklerin. Schon 1691 hatte sie einen Teil ihres Ackers auf dem heutigen Tachelesgelände als Bauland vergeben. Sieben Jahre später schenkte sie ihren Bediensteten den übrigen Teil des Vorwerkackers rund um die Ackerstraße, die heute nach Kurt Tucholsky benannt ist. An der Kreuzung zur Oranienburger Straße entstanden in kürzester Zeit 31 so genannte Freihäuser, die die spätere Monbijoufreiheit bildeten. Vom Grundzins befreit waren aber nur die 18 zuerst bebauten Parzellen, die 13 übrigen kostete dieses Vorrecht immerhin 1.000 Taler. Die neue Mitte war ohne Zweifel ein lukratives Pflaster.
Geht man über die Oranienburger Straße, stolpert man an allen Ecken über Bauzäune und Bohlen. Das Viertel brummt, auch wenn Friedrich der Erste eine Niederlage im Berliner Architekturstreit hinnehmen musste. Der Wettbewerb für den Neubau eines Postfuhramtes endete nämlich mit einer Niederlage für die Verfechter des „preußischen Stils“ und zugunsten einer Architektur im maurischen Stile. Doch in Sachen „Aufwertung“ des neuen Berlins waren sich alle einig. Vier Jahre nach seiner Krönung ging Friedrich sogar so weit, den Betrieb von Ställen in der Spandauer Vorstadt per Cabinettsordre zu verbieten. Nur ein Schandfleck war einfach nicht wegzubekommen: Der Galgen am Schinderberg.
In gewisser Weise war es Friedrich selbst, der für diesen unappetitlichen Anblick gesorgt hatte. Weil er sich nämlich beim täglichen Ritt vom Schloss Friedrichsfelde zu seinen Regierungsgeschäften am Strausberger Platz an den am Galgen hängenden Leichen störte, beschloss der Kurfürst 1698, den Sitz des Hohen Gerichts samt Richtstätte vor die Tore der Stadt zu verlagern. Dort freilich störten die Leichen bald das Flaneursvergnügen und die „Gentrifizierungsversuche“ der Königsgattin, vor allem aber den geplanten Bau des Schlosses Monbijou. 1717 wurde der Galgen deshalb noch weiter nach Norden verlegt. Doch die preußische Ordnung war bereits unterminiert.
Im gleichen Jahr, siebzehn Jahre nach der Krönung, hieß es in New Berlin nämlich: „Die Russen kommen“. Zar Peter hatte sich angekündigt und den preußischen Hof ob der Ungehobeltheit des barbarischen Ostens in schiere Unruhe versetzt. Im Stadtschloss jedenfalls wollte man Peter den Großen nicht haben, blieb also nur das gerade fertig gebaute Schloss Monbijou. Wilhelmine Friederike Sophie von Bayreuth, die Schwester des späteren Alten Fritzen, fürchtete das Schlimmste: „Um die Unordnungen zu vermeiden, welche die Herren Russen überall, wo sie sich aufhielten, angerichtet hatten, ließ die Königin das ganze Haus aufräumen und alles Zerbrechliche beiseite schaffen.“
Es half nichts: „Nach der Abreise des Besuchs“, meinte die siebenjährige Wilhelmine, „sah es im Schloss aus wie in Jerusalem nach der Zerstörung. Nie sah ich Ähnliches. Alles war so zugrunde gerichtet, dass die Königin gezwungen war, fast das ganze Haus neu zu bauen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen