zoologie der sportlerarten: Prof. Holger Hirsch-Wurz über den Rodler
Weißwurst auf Kufen
Der Homo velociwurstiensis ist ein sehr flüchtiger Geselle. Wer sich in winterlicher Landschaft auf die Pirsch nach diesem merkwürdigen und doch irgendwie putzigen Burschen begibt, benötigt vor allem einen günstigen Standort. Hat er diesen gefunden, gilt es die Ohren zu spitzen. Das Auftauchen des Rodlers kündigt sich nämlich durch ein dumpfes Grollen und Rattern an. Wenn dieses seinen Höhepunkt erreicht, ist es auch schon zu spät. Als blitzartig vorbeihuschender Schemen ist der Homo velociwurstiensis gekommen und gegangen, die Bahn aber liegt so friedlich da, als sei sie nicht gerade eben mit rüder Kufe eines Teils ihrer jüngfräulichen Pracht beraubt worden.
Wie so vielen Sportlern ist es auch dem Homo velociwurstiensis gelungen, geschickt seine Kindheit zu verlängern. Was dem gemeinen Gör nur an wenigen Tagen vergönnt ist, macht er das ganze Jahr: rodeln wie Sau. Ein erfülltes, ein begnadetes Leben, und doch ist der Homo velociwurstiensis nicht rundum glücklich. Das liegt an den lästigen Wettkämpfen, daran, dass er seiner Bestimmung nur an wenigen Orten nachgehen kann, und an seinem drolligen Äußeren. Ist er so töricht, sich in ein silberweißes Gewand zu kleiden, heißt man ihn sogleich eine rasende Weißwurst, ein Prädikat, das trotz seiner Klagen die ganze Karriere hindurch an ihm haftet. Sind zwei eindeutig übergewichtige Weißwürste – wir denken da an die unvergessenen Hans Stanggassinger/Franz Wembacher 1984 in Sarajevo – so unklug, einen Doppelsitzer zu bilden, ist das Etikett sausender Doppel-Whopper unvermeidlich.
Weil die langen Röhren, in denen er zu Tale rauscht, die Gegend verschandeln, teuer zu bauen und zu unterhalten sind, zudem bis vor kurzem mit giftigen, ammoniakhaltigen Stoffen gekühlt wurden, gilt der Homo velociwurstiensis zudem als arges Umweltschwein. Manch Olympiaort weigert sich glatt, ihm den benötigten Lebensraum zur Verfügung zu stellen, tut er es doch, sieht sich der Rodler sofort von den Speerspitzen der Ökologiebewegung belagert, die ihm hemmungslos ans Leder bzw. an die Kufen wollen. Kein Wunder, dass er da sehr einsilbig wird, und wenn es ganz schlimm kommt, sogar Feldwebel.
Ein weiteres Problem des Homo velociwurstiensis ist, dass alle Angehörigen der Spezies genau gleich schnell fahren – einer der Hauptgründe dafür, dass die Menschheit die Tausendstelsekunde erfunden hat. Weil aber nicht einmal die reicht, einen Sieger zu ermitteln, muss der Rodler vier Läufe absolvieren, in der Hoffnung, dass irgendwann mal einer auf ein winziges Eiskörnchen prallt oder in der Kurve einen Millionstelmillimeter zu hoch rutscht und so die ein oder andere Hunderttausendstelsekunde verliert, was sich dann am Ende zu einem gewaltigen Rückstand von ein oder zwei Tausendstelsekunden summiert. Dass diese Zeitklauberei kein Schwein sehen will, liegt auf der Hand.
Wenn der Rodler nicht rodelt, bastelt er am Schlitten oder am Weißwurstkostüm, denn er glaubt allen Ernstes, dass er damit der Konkurrenz ein Schnippchen schlagen kann. Darin ähnelt er stark dem Homo planschicus, der sich die Körperhaare entfernen lässt oder in Haifischkostüme schlüpft, um sich noch schnittiger durchs Schwimmbecken torpedieren zu können. Anders als sein feuchter Kollege kommt der Homo velociwurstiensis freil ebend aber nur in kleinen Enklaven vor, als da wären Tirol, Südtirol, Allgäu oder Erzgebirge. Ein paar versprengte Exemplare wurden auch in den Vereinigten Staaten gesichtet – Racing Hot Dogs –, ansonsten ist das Treiben der Rodelzunft dem Rest der Welt aber derartig suspekt, dass sich bisher noch nicht einmal Jamaikaner dabei ertappen ließen.
Wissenschaftliche Mitarbeit:
MATTI LIESKE
Fotohinweis:Holger Hirsch-Wurz, 23, ist Professor für Humanzoologie am Institut für Bewegungsexzentrik in Göttingen.
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