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Mehr Sehbehinderte bekommen Vorleser

Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Sozialgesetzbuch IX soll „Kehrtwende“ in Behindertenpolitik einleiten. Das Ziel: Mehr Selbstständigkeit und schnellere Entscheidungen für Betroffene. Regelungen sollen zum 1. Juli in Kraft treten

BERLIN ddp/ap ■ Die Bundesregierung will die Rechte von Behinderten stärken. Das sieht ein Gesetzentwurf zur gesellschaftlichen Teilhabe von Behinderten vor, den das Kabinett gestern in Berlin beschlossen hat. Während Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) von einer „Kehrtwende in der Behindertenpolitik“ sprach, kritisierten die Kommunen die Änderungen.

Kernpunkte des Gesetzes zum Sozialgesetzbuch IX., das am 1. Juli 2001 in Kraft treten soll, sind konzentrierte Beratung, schnellere Entscheidungen und größere Selbstständigkeit. Demnach sollen Behinderte mehr Möglichkeiten bekommen, die Art ihrer Betreuung selbst auszuwählen. In einem zweijährigen Modellprojekt sollen sie statt Sachleistungen der Sozialversicherungen auch Geld erhalten können, um die sozialen Leistungen wählen zu können.

Das Gesetz sieht vor, Behinderten durch die Einrichtung von Servicestellen auf Kreisebene wohnortnahe und schnelle Beratung und Hilfe zur Verfügung zu stellen. Die Betroffenen sollten „nicht mehr von Pontius zu Pilatus laufen müssen, um ihnen zustehende Leistungen durchzusetzen“, sagte Riester. Zudem solle bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben auf die Bedürftigkeitsprüfung verzichtet werden. Dies wurde bisher nur Menschen zugestanden, deren Behinderungen erst nach der Geburt, zum Beispiel durch einen Unfall, verursacht wurden.

Um schwer behinderte Menschen am Arbeitsleben zu beteiligen, sollen diese einen Anspruch auf Assistenten erhalten. So solle ein Sehbehinderter einen Vorleser in Anspruch nehmen und ein Rollstuhlfahrer einen Fahrdienst für den Weg zur Arbeit beanspruchen können, sagte Riester. Die rund acht Millionen Behinderten in Deutschland sollten „nicht länger nur Objekt der Fürsorge“ sein, sondern mehr Möglichkeiten für ein eigenverantwortliches Leben bekommen.

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, Karl Hermann Haack (SPD), wies darauf hin, dass derzeit bis zu 200.000 Klagen vor Gericht ausgefochten werden, wo sich Betroffene mit Trägern über Zuständigkeiten streiten. In manchen Fällen dauere es zwei Jahre, bis über den Hilfsbedarf entschieden sei.

Kritik kam dagegen von den Kommunen. Der Deutsche Städtetag befürchtet, dass die Neuregelung zu neuen Belastungen für die Kommunen in Höhe von drei Milliarden Mark führt. Dies sei nicht akzeptabel, sagte Hauptgeschäftsführer Stephan Articus.

Auch das Präsidiumsmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, beklagte, schon heute könnten die Kosten für die Eingliederung behinderter Menschen im Rahmen der Sozialhilfe und Jugendhilfe nicht mehr von den Kommunen finanziert werden. Wenn die Bedürftigkeitsprüfungen wegfielen, würden durch die Mehrkosten den Kommunen die Mittel fehlen, um verbesserte Betreuungsmöglichkeiten für Kinder zu schaffen oder um eine intensivere Jugendsozialarbeit zu leisten, sagte Landsberg.

Der Gesetzentwurf soll morgen im Bundestag beraten werden.

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