: Moleküle lernen rechnen
Biologische Moleküle sollen im Biocomputer die Funktionen der elektronischen Schaltkreise übernehmen. Die ersten „natürlichen“ Schaltelemente funktionieren bereits im Forschungslabor
von CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Wir leben in revolutionären Zeiten. Wollten wir bis vor kurzem nur, dass ein Computerprogramm so denken könne wie wir, wollen wir jetzt viel mehr: Computer sollen so werden wie wir. Im Versuchsstadium gibt es sie schon – die Biocomputer, in denen natürliche Moleküle wie DNA oder Bacteriorhodopsin die Funktionen elektronischer Computer wie Schalten, Leiten und Speichern von Informationen übernehmen. Gegenüber den herkömmlichen werden die molekularen Rechner große Vorteile bieten: Sie werden nicht nur viel kleiner, sondern auch viel schneller sein.
In fünf Jahren wird es den ersten molekularen Computer geben – davon ist Philip Kuekes, Universität von Kalifornien, überzeugt. Bisher gelang es, Schaltermoleküle zu fabrizieren, die durch Licht, Strom oder chemische Signale zwei unterschiedliche Zustände annehmen können: „an“ und „aus“ oder „1“ und „0“, den binären Code der Computersprache. So schaffte es das Team um Kuekes, einen Schalter herzustellen, der aus mehreren Millionen hantelförmigen Rotaxan-Molekülen besteht. Legt man eine hohe Spannung an diese Moleküle, ändern sie ihre Struktur und lassen keinen Strom mehr durch – sie funktionieren als Schalter. Kuekes’ Verfahren ließ jedoch nur einen einzigen Schaltvorgang zu.
Die Fabrikation eines mehrfach verwendbaren molekularen Schalter gelang bereits kurze Zeit später. Mark A. Reed, Yale Universität, und James M. Tour, Rice- Universität, erzeugten Bereiche in einem Aminobenzothiol-Molekül, die Elektronen einfangen und damit am Weiterfließen hindern, wenn eine bestimmte Spannung am Molekül anliegt. Durch Änderung der Spannung kann man das Molekül mehrfach zwischen leitendem und nicht leitendem Zustand wechseln lassen, wie es sich für einen elektrischen Schalter gehört. Es stellte sich heraus, dass die Schaltgeschwindigkeit dieses Schalters weit höher ist als die aller bisherigen Halbleiterelemente. Eine Variante des Schalters kann Elektronen sogar festhalten und damit als Speicher funktionieren.
Die Herstellung einzelner Bauelemente ist zwar ein wichtiger Schritt, aber für einen Rechner sind Millionen oder gar Milliarden molekularer Bauteile auf einer Platte zu befestigen und in einer festgelegten Weise zu verschalten. Ob dies jemals möglich sein wird, ist derzeit noch unklar. Warum dem molekularen Schalter trotzdem so viel Beachtung geschenkt wird, hat einen Grund: Es ist abzusehen, dass die Halbleitertechnik bald ihre Grenzen erreicht haben wird.
Über 30 Jahre galt das Gesetz von Gordon Moore. 1965 sagte der damalige Direktor der Fairchild Semiconductor RD voraus, dass sich die Anzahl der Bauelemente pro Chip alle 18 Monate verdoppeln werde. Heute erklärt Moore, damals nicht damit gerechnet zu haben, dass seine Aussage für über dreißig Jahre stimmen und wahrscheinlich noch weitere zehn Jahre gelten werde. Dann werde die Verdopplungsrate langsam abnehmen – die Computertechnologie stößt an ihre Grenzen. Da ein Schaltbild auf einen Chip durch ein lithografisches Verfahren übertragen wird, hängt die Größe der erzeugbaren Strukturen von der Wellenlänge des verwendeten Lichts ab. Mit den heutigen Techniken, die ein Schaltbild mit Hilfe von sichtbarem oder ultraviolettem Licht übertragen, lassen sich Strukturen mit einer Breite von 0,25 Mikrometern erzeugen.
Molekularelektronische Bauteile sind wesentlich kleiner. Reed gibt einen anschaulichen Vergleich: Vergrößerte man einen elektronischen Transistor auf die Größe einer DIN-A 4-Seite, so wäre ein molekulares Bauelement, in gleichem Maße vergrößert, immer noch kleiner als der Punkt am Ende dieses Satzes.
Molekulare Transistoren müssen jedoch nicht nur klein sein, sondern auch den Elektronenstrom beeinflussen können. Daher sucht man nach Molekülen, die zwei Formen annehmen können: Die eine gibt den Elektronen den Weg frei, die andere verhindert ihr Weiterfließen.
Sind geeignete molekulare Bauelemente erzeugt worden, müssen sie auf einer Platte befestigt werden. „Molecular Computing ist im Grunde ganz simpel: Man taucht eine Wafer-Platte in eine geheimnisvolle Flüssigkeit - und fertig“, schildert Mark Reed das Verfahren. Aber ganz so einfach ist das nicht. Millionen Moleküle müssen an bestimmten Stellen auf der Platte befestigt werden, mit ausreichendem Abstand voneinander, um störende Wechselwirkungen auszuschließen. Die Fähigkeit zum Self-Assembly, zum selbstständigen Zusammenfügen, ist gefragt in Größendimensionen, in denen kein Schraubenzieher mehr weiterhilft. Auf diesem Gebiet sind in letzter Zeit Fortschritte erzielt worden. Einmal ausgelöst, läuft die Selbstmontage von alleine bis zum Ende.
So hilfreich das Prinzip der Selbstmontage ist – sie allein wird nicht zur Produktion praktikabler molekularer Computer genügen. Bisher weiß man noch nicht, wie man die riesige Menge von Bauelementen untereinander verdrahten kann, sodass von jedem zu jedem eine Verbindung besteht. Zwar gelang es japanischen Wissenschaftlern bereits vor einiger Zeit, aus Kohlenstoff winzige Röhren herzustellen. Die röhrenförmigen Supramoleküle aus reinem Kohlenstoff haben eine Länge von jeweils etwa 1.000 Nanometern (1.000 milliardstel Metern) und einen Durchmesser von wenigen Nanometern. Walt de Heer und seine Kollegen vom Institute of Technology im US-Staat Georgia berichteten jüngst im Fachblatt Science von einem neuen Trick: Die Forscher luden einzelne Röhrchen, die sie an einem Ende fixiert hatten, elektrisch auf und brachten sie – in die Nähe einer entgegengesetzt aufgeladenen Elektrode. Dadurch ließen sich die – Strom leitenden – Nanoröhren beliebig verbiegen. „Damit eröffnet sich uns ein ganz neues Forschungsfeld“, sagte de Heer. „Wir können erstmalig die Nanoröhren ebenso manipulieren wie makroskopische Gegenstände auf dem Tisch!“
Aber ist es wirklich notwendig, von jedem Molekül zu jedem anderen eine Drahtverbindung zu legen? Zurzeit denkt man über neue Architekturen nach, die eine solche totale Verdrahtung überflüssig machen könnten. Vielleicht wird es einmal molekulare Computer geben, deren Bauelemente ohne Kabel in einer wässrigen Lösung schwimmen. Ein Vorbild könnte die Natur sein. Schließlich ist die Informationsverarbeitung keine Erfindung unserer Tage und nicht nur eine Frage von Mikrochips und Computernetzen.
Schon seit langem simuliert man mittels integrierter Halbleiterschaltungen biologische Informationssysteme. So wurden zelluläre Automaten, evolutionäre Algorithmen und neuronale Netze entwickelt. Doch die Komplexität natürlicher Informationssysteme übertrifft die von Menschen geschaffenen bei weitem. Eine einzelne Zelle besitzt eine millionenfach kleinere Fläche als ein Mikrochip. Dennoch finden sich auf und in ihr Hunderte verschiedener Rezeptoren und Proteine, die sich gegenseitig beeinflussen. Viele Zellproteine sind fast ausschließlich an der Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen beteiligt. Zur Informationsdarstellung gibt es Proteine, die wie in einem digitalen Computer zwei Zustände einnehmen können. So entspricht der aktive, phosphorylierte Zustand einer digitalen „1“ und der nichtaktive, unphosphorylierte Zustand einer digitalen „0“.
Wissenschaftler gehen davon aus, dass eine universelle Turingmaschine, die alles Berechenbare berechnen kann, aus solchen biologischen Netzwerken gebaut werden kann. Der Zoologe Dennis Bray, Universität Cambridge, ist davon überzeugt, dass sämtliche Aufgaben eines Computers auch von einem Netzwerk biologischer Moleküle wahrgenommen werden: Datenaufnahme, -integration und -verstärkung ebenso wie die Speicherung von Informationen und ihre digitale Verarbeitung mit Hilfe logischer Entscheidungen.
Im Gegensatz zum elektronischen Computer kennt die biologische Zelle keine Kabel. In ihren Netzwerken werden Signale entweder durch direkten Kontakt zwischen Proteinen oder durch Botenstoffe übertragen. Die Botenstoffe treiben frei in der Zelle, bis sie an Proteine geraten, die die Botschaft verstehen und umsetzen. Trotzdem ist in der biologischen Zelle – anders als im herkömmlichen Computer und noch extremer als in den Nervenzellen im Gehirn – jede Einheit mit jeder anderen verbunden. Gleichzeitig ist die Geschwindigkeit der Informationsermittlung erstaunlich hoch: Binnen einer Zehntelsekunde erreichen die Botenmoleküle jeden Ort der Zelle. Vielleicht wird es einmal – nach dem Vorbild der Natur – Computer ohne Kabel und Elektronenströme geben, die Aufgaben lösen, an denen Computer heute noch scheitern.
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