: Tödliches Heimweh
Henning Mankells siebter Krimi mit Kommissar Kurt Wallander ist gerade auf Deutsch erschienen: „Der Mann, der lächelte“. Eine Blutorgie aus einem wohlanständigen Land namens Schweden
von JAN FEDDERSEN
Kurt Wallander hat sich zurückgezogen. Er wird seinen Job kündigen. Bloß nicht mehr Kriminalkommissar in Ystad sein. Er hat die Schnauze voll. Jahrelang stets schlecht und zu kurz geschlafen. Seine Ehe ging kaputt, am Ende hat seine Frau die Nase voll davon gehabt, dass ihr Mann nur noch für seinen Beruf lebt. Zu seiner Tochter Linda findet der Mann ebenfalls keinen Draht mehr. Warum überhaupt noch Polizist bleiben –hatte nicht schon der Vater seine Berufswahl nie akzeptieren wollen?
Wallander hat sich zum Grübeln an die Nordspitze Jütlands zurückgezogen, nach Skagen, dorthin, wo ihn wirklich niemand so schnell erreichen kann. Hier will er Erholung finden, bei langen Spaziergängen an jener Landspitze im Norden Dänemarks, wo sich Nord- und Ostsee treffen. Wallander gibt es nicht zu, aber er befindet sich wohl in dem, was gewöhnlich als Krise in der Lebensmitte verstanden wird. Nicht mehr jung genug, um das Neue zu begreifen, noch nicht hinreichend alt, um zufrieden, aber doch ein wenig melancholisch sagen zu können, dass man geschafft hat, was man schaffen konnte.
Der Mann, den wir uns als Leser als in jeder Hinsicht durchschnittlich vorstellen sollen, hat kürzlich erst bei der Jagd auf einem Mörder einen Menschen erschossen, für Wallander einer der schlimmsten Momente seiner Zeit bei der Polizei. Der Blick in sein Inneres wird gestört, als er plötzlich Besuch aus der Heimat bekommt. Ein alter Bekannter, ein junger Anwalt, erzählt ihm, dass sein Vater überraschend bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei.
Der Kommissar beschwichtigt ihn. Doch als er erfährt, dass auch sein Bekannter tot ist, ermordet wurde, erwacht, nein: kein kriminalistischer Instinkt neu, sondern, so Autor Henning Mankell in einem Interview, sein Gefühl für Verantwortung, dass niemand jemanden umbringen darf. Und die Erkenntnis, dass es seine Aufgabe als Polizist ist, diesen Verstoß gegen das eherne Gesetz einer jeden Zivilisation aufzuklären – auf dass niemand auf die Idee kommt, Mord könne ein erfolgreiches Projekt sein.
Niemand? Kurt Wallander weiß, dass sein Tun im Grunde vergeblich ist. Er weiß es aus Erfahrung. In mittlerweile sieben ins Deutsche übersetzten Romanen hat Kommissar Wallander immer wieder lernen müssen, dass allein das Tötungsverbot in Ausnahmesituationen manche Menschen nicht daran hindert, einen anderen umzubringen. In dieser siebten Veröffentlichung – die Mankells deutschsprachiger Verlag leider nicht in der richtigen Reihenfolge publiziert hat, „Der Mann, der lächelte“ ist eigentlich der vierte in der insgesamt neunteiligen Wallander-Reihe – kommt Wallander durch die beiden Morde einer internationalen Verschwörung auf die Spur, bei der das gesamte aktuelle Personal aus dem Reich des New-Economy-Horrors ins Spiel gebracht wird.
Es ist nicht der stärkste Teil der Wallander-Reihe. Viel zu früh ist der Mörder bekannt, allzu klischeehaft wird die Welt der Businessflieger und Börsengläubigen geschildert. Das mag der Grund gewesen sein, „Der Mann, der lächelte“ später als beispielsweise „Mittsommermord“ oder „Die fünfte Frau“ herauszugeben. Trotzdem wird auch dieser „Mankell“ wieder die einzig ernst zu nehmende Konkurrenz für Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Geschichten in den Bestsellerlisten sein.
Die Beliebtheit dieses schwedischen Autors hat verständliche Gründe. Seine Romane sind durchweg spannend zu lesen, und nicht nur, weil jeder ohnehin wissen will, wer denn nun der Täter oder die Täterin ist. Vor allem schildert Mankell fast familienartig nah, wie es um den privaten und beruflichen Alltag der Polizisten bestellt ist. Wie in einem guten Entwicklungsroman lernt man, und nicht einmal sehr aufdringlich detailliert, die Beteiligten kennen. Zweitens aber haben die Wallander-Geschichten die bestialische und heimtückische Art gemein, in der die Opfer zur Strecke gebracht werden.
Das war noch bei Mankells schwedischen KollegInnen Maj Sjöwall und Per Wahlöö anders. Bei ihnen war es oft genug nur ein Schuss, der einen Menschen tötete; ein Gerangel, an dessen Ende ein Opfer ertrank. Mankell hingegen spart nicht am mörderischen Detail. Ein Mann wird schlicht und qualvoll zum Verhungern gebracht, der andere zusammengeschlagen, gefesselt in einen Sack gesteckt und dann ertränkt. Besonders blutig die Geschichte eines Bauern, der in einen Graben fällt und dabei von angespitzten Bambusstäben aufgespießt wird. Bei der Obduktion stellt sich heraus, dass der Ermordete keineswegs sofort tot war; vielmehr durchbohrten die Mordwerkzeuge seine Lunge, sodass er im Morast erstickte.
Auch der Mord in „Der Mann, der lächelte“ ist ziemlich infam eingefädelt, trotzdem so klug, dass Wallander mehrere hundert Seiten braucht, ehe er das Geheimnis zu ergründen vermag, das sich hinter einem Stuhl auf einem matschigen Spätwinteracker verbirgt.
Trotzdem entsteht nie der Eindruck, Mankell delektiere sich an seinen eigenen Splatterfantasien. Vielmehr zeigt er, dass die Intensität der Tötungswünsche der Täter viel und eigentlich alles mit ihrer eigenen Vorgeschichte, mit ihrem Bösen, mit ihrer Rachsucht und mit ihrem Hass auf Erlittenes zu tun hat. Es sind nachfühlbare und hinreichend konkrete Berichte aus dem Alltag von uns allen. Mankell lässt keinen Zweifel, weder in seinen Büchern noch in Interviews, dass bei einigen der Wunsch, es ihrem Peiniger heimzuzahlen, stellvertretend oder höchstpersönlich, stärker und mutiger ausgeprägt ist als bei den meisten.
Insofern sind seine Krimis unmöglich als außerweltlicher Horror lesbar: Hinter jeder gemütlichen Tür kann ein Gedemütigter leben, der auf Rache sinnt. In „Mittersommermord“ wird diese Konstruktion über das Leben eines normalen Aliens besonders feinsinnig ausformuliert. Das Motiv des Täters, der sogar seinen Lebensgefährten, einen Kollegen Wallanders, umbringt, ist nichts weiter, als dass er den Anblick glücklicher Menschen nicht ertragen kann – und zwar seit er selbst als junger Mann unheilbar gedemütigt wurde. Nüchtern, fast kalt schildert Mankell, wie dieser Mann ein frisch getrautes Paar am südschwedischen Strand, das sich dort als glückliches Paar fotografieren lässt, hinrichtet – zielsicher mit zwei Kugeln in die Stirn.
Dass Mankell in all seinen Romanen, auch in seinen Kinderbüchern und den Geschichten aus seiner Wahlheimat Mozambique, skizziert, wie Gesellschaft funktioniert, wie das Böse einsickern kann in jedes Idyll, das festzustellen ist banal. Das vermochte selbst Agatha Christies biedere Miss Marple, so viel Präzision ist auch den Geschichten der amerikanischen Bestsellerautorin Patricia Cornwell mit ihrer Heldin, der Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, eigen.
Was aber der Schwede ausbreitet, ist ein Panorama von der sachten Veränderung der traditionellen Welt. Kurt Wallander erkennt sein Schweden immer weniger. Menschen, die sich plötzlich auf Lynchjustiz verlegen, weil sie im Ausländer den Feind erkennen. Wieder andere, denen die Sorge um ihre Nachbarn gleichgültig wird. Mankell hat fast zufällig vor knapp zwanzig Jahren als Autor begonnen: Gerade hatte er bei einem Sommerurlaub in Schonen, dem südlichsten Teil Schwedens, erlebt, wie eine Welle von Ausländerfeindlichkeit das gesellschaftliche Klima vergiftete.
Als er seinem Schwiegervater, dem Regisseur Ingmar Bergman, sein erstes Wallander-Skript zeigte, war der angetan, gerade weil Wallander ein so normaler Schwede ist, eben weil er nichts von der jamesbondhaften Attitüde eines Graf Hamilton hat, die sein Autorenkollege Jan Guillou bis zum Überdruss zu seinem Alter Ego kultivierte.
Was Mankell insgeheim notiert und was womöglich die meisten seiner Leser als eigene Empfindungen wieder erkennen, ist der Verlust von Heimat. Aufgewachsen im Härjedalen, einer schwedischen Provinz, in der niemand überleben kann, wenn er nicht auf gütliche Nachbarschaft setzt, und die denkbar fern der großen weiten Welt liegt, thematisiert der gelernte Theaterregisseur, wie es sich anfühlt, wenn die Welt immer unübersichtlicher, immer offener, immer fremder wird. Für eine Figur aus den Wallander-Romanen bedeutet es schon eine Überwindung, als Polizist vertretungsweise im nahen Malmö zu arbeiten; Wallander hängt an Ystad und seiner Ordnung, weil die Welt nirgendwo so sein kann wie dort. Wobei, nebenbei gesagt, in keinem von Mankells Büchern jemals erwähnt wird, dass diese Fährhafenstadt ein äußerst gepflegtes Nest ist – mit einem schicken Altstadtkern und kilometerlangen Badestränden in Fahrradweite. Nie wird Ystads Nettigkeit kontrastiert mit dem Grauen der Verbrechen hinter den Fassaden: Diesen dramaturgischen Kniff hat sich Mankell souverän versagt.
Mankells Geschichten sind deshalb ungemütlicher als die seiner Kollegen Maj Sjöwall und Per Wahlöö. Hoffnung, gar mittels einer politischen Wende, hegt er keine. In Wallanders Welt gibt es nichts, was anderes verspräche als die Arbeit am ewig Unerledigten. Tagelang wird ermittelt, wochenlang manchmal, rund um die Uhr, nur sporadisch unterbrochen von durchweg kaum genügend erholsamem Schlaf.
Insofern ist Mankell ein sozialdemokratischer Schriftsteller, einer, der um die Enttäuschung weiß, wenn die Dinge sich nicht grundsätzlich zum Besseren wenden. Der gerade deswegen glaubt, nie aufgeben zu dürfen. Das ist der Grund, weshalb Kurt Wallander schließlich doch nicht den Polizeidienst quittiert. Denn das könnte als Sieg des Bösen begriffen werden. Aufzugeben wäre eine Schmach, die der Kommissar noch weniger aushielte als eine Fahndungspanne.
Was Mankell hofft, wahrscheinlich zu Recht, ist, dass seine Bücher dermaleinst „Teil des künstlerischen Gemäldes unserer Zeit“ werden mögen, als eine „Fackel im Dunkeln“. Das ist vielleicht zu pompös gedacht, aber auf Schwedisch klingen Sätze wie dieser nicht so hehr. Was er vielleicht meint, ist, mitgeholfen zu haben, dem Heimweh nach einer verlorenen Welt, und sei es der eigenen, einen eigenen, einen missionarischen Klang gegeben zu haben.
JAN FEDDERSEN, 43, taz.mag-Redakteur, lebt in Berlin. Ystad veranstaltet vom Mai an wieder Kurt-Wallander-Orte-und-Plätze-des-Verbrechens-Stadtrundfahrten mit einem Feuerwehrauto. Infos unter www.ystad.se oder Fon (00 46) 4 11 57 76 81
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