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Holland vor Deutschland

taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 7): Anders als in Deutschland reagieren die Bildungspolitiker in den Niederlanden auf die multiethnische Realität. Zweisprachiger Unterricht gilt als Erfolgsmodell

von JEANETTE GODDAR

Es war im Sommer 1999, als der Amsterdamer Stadtrat Jaap van der Aa eine Ära beendete, auf die man lange mit Stolz verwiesen hatte: Minderheitenpolitik, verkündete der Sozialdemokrat, werde es von nun an nicht mehr geben.

Die Begründung, die er dazu lieferte, hatte etwas selten Unbestechliches: Jeder zweite Amsterdamer sei inzwischen „allochtoon“, also nicht niederländischer Herkunft, jeder zehnte homosexuell – von Minderheiten könne da wohl keine Rede mehr sein. Seither wird das, was vorher Minderheitenpolitik hieß, in der niederländischen Hauptstadt „diversiteitsbeleid“ genannt und entspricht in etwa einer Politik unter Anerkennung der Unterschiede der einzelnen Bevölkerungsgruppen.

An den Amsterdamer Schulen sind etwa zwei Drittel aller Kinder im Grundschulalter nicht niederländischer Herkunft; Tendenz steigend. Insbesondere in den Innenstadtbezirken sowie in den Hochhaussiedlungen am Stadtrand fallen die wenigen übrig gebliebenen weißen Schüler kaum noch auf und machen auch numerisch oft unter zwanzig Prozent aus. Auf diesem Weg ist ein Schultyp entstanden, von dem es hierzulande heißt, er sei überhaupt nicht beherrschbar: Landesweit sind etwa hundert Schulen „mono-ethnisch“ – das heißt, mehr als Dreiviertel der Kinder stammen aus demselben Land, meist aus der Türkei, Marokko oder Surinam.

Recht auf Muttersprache

Selbstredend führt die Entstehung von immer mehr so genannten schwarzen und weißen Schulen auch in den Niederlanden zu Problemen: Auch hier schicken immer mehr weiße mittelständische Eltern ihre Kinder auf eine der zahlreichen Privatschulen; auch hier erzielen weiße Schüler im Schnitt bessere Resultate als schwarze; auch hier ist die Zahl der Schulabbrecher unter Einwanderern viermal so hoch wie unter Ur-Niederländern. Immerhin nehmen die schulischen Probleme und Ausfälle von Generation zu Generation ab und nicht zu.

Um die Kinder der Einwanderer in die niederländische Gesellschaft zu integrieren und sie nicht zu zweisprachigen Analphabeten werden zu lassen, hat man sich schon in den 70er-Jahren für ein völlig anderes Modell als in Deutschland entschieden: Seit 1974, als die Phase des Familiennachzugs in vollem Gange war, werden Kinder der größeren Gruppen auch in ihrer eigenen Sprache und Kultur unterrichtet. Zur Begründung hieß es bereits damals, der Erhalt der eigenen Kultur sei wichtig für die Identität – und damit auch für die Integration.

Im Jahre 1985 wurde das „Kernstück interkulturelle Bildung“ in das Schulgesetz eingefügt und eine gleichnamige Projektgruppe im Bildungsministerium installiert. Seitdem soll laut Gesetzestext der Unterricht über fremde Kulturen, Religionen und Weltregionen an allen Schulen im Vordergrund stehen. Seitdem wird darauf Wert gelegt, dass auch die zugewanderten Kinder sich mit dem Unterrichtsmaterial identifizieren können.

Im August 1998 trat das Gesetz über den „Unterricht in allochthonen lebenden Sprachen“, der inzwischen „Unterricht in eigener Sprache und Kultur“ heißt, in Kraft. Zuvor musste jede Gemeinde einen Plan vorlegen, in der sie darlegte, wie sie den Unterricht für ihre Minderheiten sicherstellen wolle.

All das hat immer noch nicht dazu geführt, dass jedes Kind von Einwanderern auch tatsächlich in der Muttersprache unterrichtet wird; in der Praxis bleibt das in der Regel Kindern aus den größeren Communities vorbehalten. Es hatte aber auch nicht den in Deutschland oft befürchteten Nebeneffekt, dass die Bedeutung des Niederländischen abgenommen hätte: so schreibt das Gesetz auch fest, dass im „normalen“ Unterricht nur in Niederländisch unterrichtet, abgefragt und geprüft werden darf.

Die Muttersprache, da ist man sich in den Niederlanden weitgehend einig, soll vor allem als Mittel zum Erlernen des Niederländischen eingesetzt werden. Anders als in Deutschland glaubt in den Niederlanden nach wie vor die Mehrheit der Bildungspolitiker, dass Kinder, die ihre eigene Sprache richtig lernen, auch in einer fremden Sprache besser zurechtkommen.

Sieben Jahre Rückstand

Diese Position bekommt mittlerweile auch Rückendeckung durch die Mitarbeiter des Rotterdamer Bildungsinstituts CED, die die Ergebnisse ihres Modellversuchs „Trias“ vorstellten: Zwei Jahre lang hatten türkische Schüler an insgesamt 17 Rotterdamer Grundschulen alles anders gemacht als an herkömmlichen Schulen: Anstatt sich in Niederländisch mit Themen wie Deichbau, Grundrechenarten und Fabelwesen herumzuschlagen, wurde ihnen der für Grundschulklasse drei übliche Stoff zuerst auf Türkisch präsentiert. Eine Woche später lernten sie den gleichen Stoff dann noch einmal auf Niederländisch.

Das Ergebnis: Die Kinder, die am Modellprojekt „Trias“ teilnahmen, sprachen und verstanden am Ende nicht nur besser Türkisch als ihre Kollegen, sondern auch Niederländisch. Ergo, so die Verfasser der Studie: „Unterricht in der eigenen Sprache fördert die Fertigkeit in der Muttersprache – und die wiederum beeinflusst das Erlernen der Zweitsprache positiv.“

Andererseits wird auch an den Niederländischkenntnissen intensiv gearbeitet: Seit zehn Jahren arbeitet die Projektgruppe „Niederländisch als zweite Sprache“ im Auftrag des Bildungsministeriums. Die Philosophie: Sprachunterricht dürfe nicht isoliert stattfinden, sondern mmüsse in den Unterricht eingewebt werden.

Über ein Drittel der Pädagogischen Hochschulen hat inzwischen an der Kampagne „Versteh dein Fach“ teilgenommen. Dort lernen die angehenden Lehrer, sich der Zweisprachigkeit bewusst zu werden. Für die Unterrichtsplanung heißt das: Das Lernziel am Anfang zusammenfassen, das Wesentliche wiederholen und am Schluss auf den Punkt bringen. Außerdem wird viel Wert auf visuelle Unterstützung gelegt.

Dass das Angebot für die Einwandererkinder teuer ist, ist offensichtlich: Pro Migrantenkind bekommt eine niederländische Schule etwa doppelt so viel Geld wie für einen kleinen weißen Niederländer. Alles andere, so heißt es zur Begründung aus dem Bildungsministerium, hieße, „wertvolles Talent zu vergeuden“.

Doch Migrantenkinder haben noch immer schlechtere Chancen als weiße Holländer. Vor einigen Jahren wurde im Auftrag des Bildungsministeriums untersucht, wie lange Kinder nichtniederländischer Herkunft in der Schule benachteiligt sind: Danach braucht der durchschnittliche Neuankömmling zwei Jahre, um Niederländisch als Umgangssprache zu beherrschen – und fünf bis sieben, um das Niveau der Schulsprache zu erreichen. Ergo: Ein Schüler, der zu Hause nur die Sprache seiner Eltern gesprochen hat, bekommt bis zur siebten Klasse weniger mit als andere.

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