: Lob des Skandals
BSE, Kampfhunde, Streetfighterfotos: Immer häufiger ist öffentliche Erregung nur ein Gewitter, damit sich entladen kann, was längst in der Luft liegt. Folgt dem Zorn der Medien ein politisches Pfingsten?
von REINHARD KAHL
Der Skandal, ausgerechnet der Skandal, wird zum wichtigsten Portal, durch das heute Themen und Stimmungen hindurch müssen, um in die Arena zu gelangen, in der die großen Debatten geführt werden. Ob Kampfhunde oder Spendenbetrug, ob Rechtschreibung oder Rechtsradikale, jedes Mal gibt es ein schlummerndes Thema hinter dem Thema, das nach Artikulation drängt, ja oftmals zum Himmel schreit und sich häufig der martialischen Skandalmaske nur bedient, um für sich Aufmerksamkeit zu erringen. Da wo ich bin, sagt der Skandal, da ist die politische Bühne. Er ist das Unerhörte, das Verborgene, aber auch das lange schon Geahnte.
Früher war der Skandal eher ein Regelverstoß am Rande. Weil er die Sünde öffentlich machte, blieb strittig, ob sein Lärm und die Öffentlichkeit, die er schaffte, nicht der eigentliche Skandal seien. Gewöhnlich sollte er ja einen Würdenträger bloßstellen. Oft war er heimtückisch inszeniert, so wie das Wort Skandalon ja das Stellholz an einer Falle bezeichnet, die zuschnappt, sobald es berührt wird. Bis in die Moderne machten die Skandale ihre Karriere im Dunst des Privaten, des Erotischen und des Allererotischsten, des Geldes.
Ganz anders die neuen Skandale. Sie fokussieren verstreute Wahrnehmungen und Meinungen und werden dabei zum politischen Medium. So macht BSE unseren ganzen Stoffwechsel mit der Natur zum Politikum. Immer häufiger ist der Skandal nur ein Gewitter, damit sich das, was längst in der Luft liegt, entladen kann. Die Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für ein Vierteljahrhundert alte Streetfighterfotos mit dem Außenminister war von einer neuen Empfindlichkeit für die sich anbahnende Revision des Politischen vorbereitet. Weil sich die politischen Lager auflösen, wird es künftig mehr auf Personen ankommen als auf Personendarsteller. Auch deshalb wird jetzt die Geschichte von 68 ins Gedächtnis gerufen und neu erzählt.
Markierte der alte Skandal eine Grenze zwischen einer heiligen Ordnung und ihrer sündhaften Übertretung, so ist der neue Skandal ein Zwischenland von empfindlichen Übergängen zum Ungewissen, das erst noch in Ordnung zu verwandeln ist. Bekräftigte der alte Skandal letztlich die Alternativlosigkeit einer Ordnung, so eröffnet der neue Skandal ein Spiel von Möglichkeiten mit ungewissem Ausgang. Er ist ein Labor, in dem Zukunft gemacht wird.
Wach durch Fernsehen
Die Choreografie heutiger skandalöser Aufführungen folgt immer dem gleichen Schema. Die politische Arena wirkt wie verlassen. Dann ein Vorfall. Es donnert und kracht in den Medien. Plötzlich sind alle wach, reden und reden, ob in der U-Bahn, beim Abendbrot oder bei der Arbeit. Ein politisches Pfingsten. Die Recken der alten Politik hingegen wollen nur das eine, mit einem abwiegelnden Statement in die Tagesschau. So wie der Philosoph Odo Marquard über die modernen Menschen sagt, sie wollten nicht mehr in den Himmel, sondern ins Fernsehen, zieht es die Politiker nicht mehr ins Parlament, sondern vor Mikrofon und Kamera.
Die erste Stufe in der Selbstinszenierung des Skandals, die Empörung über die hoch signifikante Abweichung, die den Vorfall ausgelöst hat, geht bald über ins Einklagen von Normalität. Hunde, die nicht beißen. Politiker, die nicht lügen. Friedliche und gesunde Rindviecher auf allen Weiden. Nach dieser naiven Erschlaffung bekommt der Diskurs hysterische Zustände. Das vermeintlich Normale, angesiedelt irgendwo zwischen Paradies, reiner Bio-Natur und bloßem Kitsch, scheint durch den Sündenfall für immer verloren.
Im nächsten Akt fällt allen auf, dass die Welt schon länger nicht in Ordnung ist. Jetzt wird es richtig interessant – was folgt der Erregungsexplosion? Implodiert das diffuse Gemisch oder kristallisiert die angereicherte Atmosphäre Neues aus? Die Chance, Neues hervorzubringen, ist ja die Seele von Politik. Und Politik ist immer nur Chance, nie Gesetz. Sie beginnt mit Erregung und Debatten, dann folgen Handlungen, schließlich wieder Debatten usw. Vorschnelle Handlungen, die berühmten Bauernopfer beim politischen Personal oder das aktuelle Verbrennen ganzer Herden von Rindern, solch Schamanimus soll beides verhindern, Debatte und Handeln.
Insofern ist die Politiker-Politik, zumal wenn sie sich auf Sachzwänge herausredet, unpolitisch geworden. Skandale hingegen bringen heute den Körper der Gesellschaft in Erregung und politisieren ihn. Das geschieht nicht mehr in Straßenschlachten, auf Demos oder bei Kundgebungen. Unter der ausgedörrten oder gestylten Oberfläche kommen Turbulenzen auf. Man spürt das berühmte Chaos, das einen Stern zum Tanzen bringen kann. Der Energieaustausch erregt Ideen und bringt neue Konstellationen für die Selbstorganisation der Gesellschaft. Jetzt schlägt nicht mehr die Stunde eines Karl Marx und der letzten Gefechte. Gekommen ist die Stunde eines Niklas Luhmann, jenes genialen Soziologen, der die Geschichte vom Kaiser ohne Kleider neu erzählt: Das System hat keine Zentrale, zumindest nicht nur eine.
Der kategorische Imperativ heißt dann, wie es ein anderer Selbstorganisationstheoretiker, Heinz von Foerster, formulierte: Handle stets so, dass sich mit deinem Handeln die Menge der Möglichkeiten in der Welt vergrößern lässt. Traditionelle, vom Machtkampf bestimmte Politik unterliegt der Leitdifferenz „Entweder-Oder“, „Ich oder Du“. Dauerndes Reduzieren. Diese Dummheit wird heute von Skandalen bloßgelegt und verwandelt. Alte Politik dankt ab, ja wickelt sich selbst ab. Zugleich bilden sich Konturen einer anderen Politik heraus, in der es mehr auf Personen als auf geklonte Parteigänger ankommen wird.
Die neue Politik, das machen der BSE-Skandal und skandalträchtige Themen wie Stammzellen, Gene und Co deutlich, wird auch eine „Politik der Dinge“ sein, wie es der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour formuliert. Er schlägt sogar ein „Parlament der Dinge“ vor. Es wird eher im Internet und im Supermarkt abgehalten werden als im Reichstag. Hier liegt eine zweite Chance für die Grünen. Wenn sie doch nicht so einen romantischen Naturbegriff hätten und als Heimatvertriebenenverband der Nach-68er-Zeit kein so familiäres und vereinsseliges Politikverständnis.
Natürlich hybride
Vielleicht nehmen sich Renate Künast und ihre Family aber auch die Zeit für Latours Buch „Die Hoffnung der Pandora“ (Suhrkamp). Dann lesen sie: „Das Politische zieht in die Wissenschaften ein. In die Dinge selbst. Die Natur ist ein politischer Prozess.“ Die schnelle Formel von der industrialisierten Landwirtschaft und das ganze Bio-Gerede lassen vergessen, dass es für uns keine unschuldige Natur geben kann, dass wir, wie Latour sagt, dauernd „Hybride“ hervorbringen, „Mischungen aus menschlichen und nichtmenschlichen Wesen, die nicht beherrschbar, die dynamisch sind und also Vorsicht erfordern“. Schutz vor gefräßigen Endverbrauchern, diesen letzten Menschen, ist der Verbraucherschutz, der ansteht.
Der Skandal erweitert heute das politische Feld hin zu den Dingen und öffnet es für Gefühle. „Gefühle beleben und bilden die Institutionen, sie stecken in den Zwangsgesetzen, in den glücklichen Zufällen, agitieren an den Horizonten. Sie finden sich in allem, was uns angeht“, schreibt Alexander Kluge in seiner „Chronik der Gefühle“. Kluges große Rehabilitierung kommt zum richtigen Augenblick: Gefühle galten als Nebel aus Täuschung und Verführung – zu feucht, zu sumpfig und außerdem von erhöhter Temperatur. Den Niederungen dieser Kooperation von Kopf und Körper wollte man schnell entkommen. Ein Fluchtweg waren die Bemächtigungsstrategien der alten Politik.
Kluge erinnert nun daran, dass Gefühle ahnungsvoll nach vorne gerichtet und viele tausend Jahre alte Langzeitspeicher der Erinnerung sind. Sie kämpfen wie Partisanen, sind unbestechlicher als das eingebildete und häufig opportunistische Ego, und sie reichen als Wahrnehmungssonden weiter als der Begriff. Sie zu vernachlässigen hat in Deutschland noch immer die politischen Leidenschaften nach rechts verschoben.
Sollen uns Skandal und Gefühl erlösen? Nein! Sie bedürfen der Klärung und Selbstaufklärung, also der Politik. Von ihr wird abhängen, ob aus der Larve Skandal ein Schmetterling oder ein Nachtfalter schlüpft. Eines ist allerdings ziemlich sicher: Wenn der Skandal selbst zum Medium eines erweiterten politischen Prozesses wird, taucht dahinter ein Medium zweiter Ordnung auf, „die Medien“. Dass in großen Tageszeitungen politische Debatten ins Feuilleton abwandern, ist ein Zeichen für diesen allerneuesten Strukturwandel der Öffentlichkeit. Ob die Medien überwiegend Inkubatoren von Intelligenz oder Schnellverwerter von Erregungen sein werden, davon wird mehr Zukunft abhängen als von Parteitagsbeschlüssen. Man möchte also laut rufen: „Die Politik ist tot, es lebe die Politik.“ Der nächste Skandal jedenfalls wird noch interessanter.
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