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Kein geborener Demokrat

Es ist nicht gelungen, bei Heranwachsenden zweifelsfrei zivilgesellschaftliche Wertvorstellungen durchzusetzen. Höchste Zeit, Politische Bildung als Fach und als Prinzip in den Schulen zu verankern

von RAINER WICKE

Buntes Treiben auf den Allgemeinplätzen beherrscht die Diskussion um die rechtsextremistische Jugendgewalt. Nachdenklichen bleibt nur, darauf zu verweisen, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus eine langfristige Aufgabe sei, eine, die Geduld und langen Atem erfordere. Und in der Tat: Fragen der politischen Sozialisation, letztendlich der Erziehung und Bildung, beantworten sich allenfalls in deren Verlauf oder im Nachhinein.

Ich-Schwäche

Vor diesem Hintergrund ist das weit gehende Scheitern der Sozialisationsinstanzen – Familie, Schule, Ausbildung sowie Öffentlichkeit – evident. Es ist nicht gelungen, zweifelsfrei demokratische und zivilgesellschaftliche Wertvorstellungen und Leitbilder in der Weise durchzusetzen, dass im Alltagsbewusstsein Heranwachsender antidemokratische und gewaltbereite Denk- und Verhaltensweisen klar marginalisiert wären. Deren gesamtgesellschaftliche Ächtung ist nicht mehr sichergestellt; der Rassist sieht sich nicht isoliert. Er kann sich vielmehr in einem Umfeld bewegen, das von schweigender Hinnahme bis zur offenen Unterstützung reicht.

Die Öffentlichkeit selbst hat sich über die Demarkation demokratischer Toleranz hinaus verschoben – und zwar nach rechts. In einer wachen Bürgergesellschaft wäre es nicht denkbar, dass neonazistische Jugendbanden ganze Gemeinden als „national befreite Zonen“ deklarieren können; gäbe es in der Mehrheitsgesellschaft nicht selbst das dumpfe Empfinden von Fremdenfeindlichkeit. Aus der Sozialpsychologie wissen wir, dass der komplexe Affekt des „sozialen Vorurteils“ etwas mit der Ich-Schwäche derer zu tun hat, die diskriminierender Ausgrenzungen geradezu bedürfen. Toleranz – also nicht nur das Ertragen des Fremden, sondern seine Annahme als Bereicherung – hat Selbst-Bewusstsein zur Voraussetzung, eine individuierende Qualität, die erworben sein will. Es geht bei Rechtsextremismus und Rassismus ums Lernen: Kein Mensch kommt als Rassist zur Welt – aber auch nicht als Demokrat.

Wenn angesichts der epidemischen Gewalttaten, Aufmärsche und Provokationen neonazistischer Gruppierungen öffentlich zum Sich-Einmischen und zu Wachsamkeit aufgerufen wird, so ist dies zu begrüßen. Dennoch ist das nur der kleinere Teil dessen, was zur Revitalisierung der Zivilgesellschaft zu leisten ist. Die größere Herausforderung betrifft den Zusammenhang von Bildung und Bewusstsein, von Lernen und Ich-Identität.

Diese Gesellschaft hat es seit den 70er-Jahren hingenommen, dass die Bildungspolitik sich fast ausschließlich auf die Gestaltung der beruflichen Ausbildung konzentrierte. Allgemeine, das heißt persönlichkeitsbildende Aktivitäten stellte sie hinten an. Die Vorschläge des Deutschen Bildungsrates, der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung sowie der damaligen Bundesregierung selbst, die bereits 1970 einen wegweisenden Bericht zur Bildungspolitik vorgelegt hatte, ließen Aufbruch erwarten. All diese Ausarbeitungen, die sich zu gesellschaftspolitischer Orientierung und der „Erziehung zur Konfliktfähigkeit“ verpflichtet hatten, blieben aber in den Schubladen. Die zunehmende Staatsverschuldung trat ins öffentliche Bewusstsein – seitdem wurde Bildung als Luxusartikel gehandelt: als Substrat zweckfreier Intellektualität, der sich nur widmen kann, wer sonst keine Sorgen hat. Der noch immer wirklichkeitsferne Fächerkanon im schulischen Bereich markiert eine zweite Fehlentwicklung. Soziale, gar gesellschaftspolitische Kompetenz kann nicht erwarten, wer die dafür relevanten Lernräume verstellt. Seit Jahrzehnten eiert die Schule ängstlich um das Fach Politische Bildung herum, verkleidet es mal als „entschärfte“ Gemeinschaftskunde oder versteckt es eine anderes Mal in der so genannten Sozialkunde.

Unterrichtstabu Politik

Auch hier schleppen wir Traditionen mit uns, die zwar der verklemmten Bewusstseinslage der Nachkriegszeit entsprochen haben mögen, die heute aber zu schweren Verwerfungen führen. Wenn Demokratie gelernt werden muss, weil wir nicht naturwüchsig schon Demokraten sind, so wird das Ausbleiben dieser „Lektion“ den oft beschworenen Weimarer Zustand schaffen: eine Demokratie ohne Demokraten. Zu erinnern ist an das unselige Wirken des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen, der die deutsche Nachkriegspädagogik gleichzeitig beeinflusst und widergespiegelt hat. Die Entpolitisierung der Bildungsinstitutionen geht auf seine Fehlschlüsse aus Nazi-Pädagogik und reeducation zurück. Angst vor „Gesinnungsunterricht“ verbannte gleich die gesamte Politik aus der Schule und erklärte sie zum Tabu wie sonst allenfalls noch die Sexualität.

Die Entpolitisierung von Schule und Ausbildung wirkt bis heute nach. Da in antagonistischen Gesellschaften gegensätzliche Interessen miteinander konkurrieren, glaubt man dem Neutralitätsgebot der Schule noch immer am ehesten dadurch gerecht zu werden, indem man die systemtypischen Konflikte pluralistisch einebnet. Konflikttheoretische Ansätze, bereits in den 80er-Jahren formuliert, versuchen diese Positionen hingegen diskursiv aufeinander zu beziehen und argumentativ zu gewichten; ein Lernprozess, der das sprichwörtliche „Position beziehen“ überhaupt erst ermöglicht. Genau hier beginnt auch jener Teil des Lernens, dessen die demokratischen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppierungen dringend und immer wieder neu bedürfen. Es ist dies die Befähigung, auf der Grundlage orientierender Wissenszusammenhänge selbstständig zu urteilen und Standpunkte zu beziehen – oder auch revidieren zu können. Dieser Vorgang bedarf der Einübung schon deshalb, weil die traditionellen Institutionen funktionalen Lernens, die sich als Übungsfelder anböten, entweder nur rudimentär noch genutzt werden oder ganz weggefallen sind: Jugendorganisationen, Sportvereine, Jugendverbände der Parteien, Gewerkschaften, Kirchen etc.

Es wird darauf ankommen, die Schule durch eine neue Schwerpunktsetzung so auszurichten, dass sie seine persönlichkeitsbildenden und sozial integrierenden Potenziale tatsächlich auch entfalten kann. Mit ein bisschen „Gemeinschaftskunde“, verwoben in einem Knäuel unverbundener Einzelfächer, ist das nicht zu machen. Überhaupt dürfte die Schule überfordert sein, wollte man ihr über das „Fach“ hinaus Politische Bildung als Prinzip exklusiv abverlangen. Lernziele wie „Solidarität“, „Toleranz“ und „gesellschaftliches Engagement“ sind in einer Atmosphäre von Leistungs- und Status-Konkurrenz nur schwer unterzubringen.

Umso dringender ist der Verweis auf die Potenziale, die im wenig beachteten Bereich der außerschulischen Jugendbildung buchstäblich ruhen: auf das vorhandene Netz von Bildungsstätten wäre zurückzugreifen, um dort anzusetzen, wo die Schule in ihrer auf formale Qualifikationen hin orientierten Struktur wenig ausrichtet: beim Einüben und Anwenden demokratischer Verhaltensmuster und der Aneignung von Konfliktkompetenz, die Ausgrenzungen und die Projektion von Feindbildern von vornherein ausschließt.

Der Autor (55) ist promovierter Erziehungswissenschaftler und war bis 1987 Chefredakteur der „Materialien zur Politischen Bildung“

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