Urteil: Rezept zum Wegsperren Ungeliebter

■ Vera Stein – zwei Jahre in der Klinik Dr. Heines festgehalten – hat ihr Urteil vom Bremer Oberlandesgericht bekommen: Sie hat verloren

Vera Stein hat verloren. 1977 wurde sie von ihrem Vater in die Klinik Dr. Heines gebracht. Zwei Jahre blieb sie dort, gegen ihren Willen. Die damalige Diagnose: Hebephrenie, eine Form der Schizophrenie. Tatsächlich, so argumentiert Vera Stein seit Jahren, habe sie versucht, sich gegen ihren höchst autoritären Vater zu wehren. Der organisierte daraufhin, dass die aufmüpfige Tochter eingesperrt wird.

Weil Vera Stein zum Zeitpunkt ihrer Unterbringung bereits volljährig war, also entweder mit ihrer Einlieferung hätte einverstanden sein müssen – was sie nicht war – oder aber eine gerichtliche Anordnung hätte vorliegen müssen, hat das Landgericht Bremen in erster Instanz im März 1998 ihre Unterbringung in der Klinik Dr. Heines als rechtswidrig verurteilt und ihr einen Anspruch auf Schadenersatz zugesprochen; die Klinik hatte dagegen bei der nächsten Instanz, dem Oberlandesgericht (OLG), Berufung eingelegt – und gewonnen. Jetzt liegt die Urteilsbegründung vor.

Von Vera Stein in Auftrag gegebene Gutachten bescheinigen der als Kind an Kinderlähmung Erkrankten eine „schwere Reifungs- und Pubertätskrise“ – eine Psychose habe sie zu keiner Zeit gehabt. Als „Borderline-Störung“ klassifiziert der Gutachter vor dem Oberlandesgericht, der Münsteraner Psychiatrieprofessor Gerhard Rudolf, Steins damaliges Krankheitsbild. Als solche musste sie behandelt werden, erklärte Rudolf dem 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts (OLG) im Dezember vergangenen Jahres. Aber da man damals diese Krankheit noch nicht kannte, konnte man nicht anders behandeln als man es eben getan habe. Rudolf wörtlich: „In den meisten Krankenhäusern herrschte damals ziemliches Durcheinander. Das war bei Heines nicht anders als im Krankenhaus X oder Y. Das war halt so.“

Die taz dokumentiert Auszüge beider Urteile – das des Landgerichts Bremen und das des Oberlandesgerichts. Einige Passagen erläutert Vera Steins Anwältin, Dr. Ilse Dautert.

Das Landgericht begründet die Verurteilung der Klinik Dr. Heines damit, dass die rechtliche Grundlage für die Unterbringung von Vera Stein fehlte: „Selbst wenn man von einer anfänglichen Einwilligung der Klägerin (Vera Stein, Anm. d. Red.) ausgehen wollte, wäre diese durch die unstreitig erfolgten Ausbruchsversuche der Klägerin und die erforderlich gewordenen Fesselungen hinfällig geworden. Spätestens zu diesen Zeitpunkten ... wäre die Einholung einer gerichtlichen Anordnung erforderlich gewesen.“

Den selben Punkt sieht das OLG indes ganz anders: „Selbst wenn man einen zwischen der damals volljährigen Klägerin und der Beklagten (die Klinik Dr. Heines) konkludent (auf Einvernehmen beruhenden, Anm. d. Red.) abgeschlossenen Behandlungsvertrag nicht annehmen will, liegt in jedem Falle ein entsprechender Behandlungsvertrag zugunsten der Klägerin zwischen ihrem Vater und der Beklagten ... vor.“

Dazu sagt Rechtsanwältin Dautert: „Das Landgericht hat den Schwerpunkt auf den Unterbringungsbeschluss gesetzt und gesagt: er lag nicht vor – also Schadenersatz. Und der OLG-Senat hat diesen entscheidenden Komplex, den das Landgericht diskutiert hat, mit seiner Konstruktion – Vater schließt für volljähriges Kind einen wirksamen Vertrag – einfach umschifft. Das geht nicht. Das ist rechtlich nicht haltbar. Es gibt keine rechtliche Konstruktion, wonach für einen Volljährigen, der nicht entmündigt ist und der nicht unter Betreuung steht, ein anderer – egal, ob es der Vater ist oder irgendein wildfremder Dritter – ohne Einwilligung des Betroffenen einen wirksamen Vertrag schließen könnte. Der Senat hat die Krankenunterlagen ganz offenkundig nicht gelesen. Denn dann hätte er gesehen, dass sich in der Krankenakte ein Zettel befindet, auf dem steht: Unterbringungsbeschluss derzeit nicht einholbar, da Eltern in Urlaub. Frau Stein war volljährig. Man musste nicht die Erlaubnis der Eltern haben, um eine Unterbringung zu beantragen. Wenn ein Patient nicht mehr einwilligungsfähig ist, dann beantragen die Ärzte von sich aus beim Vormundschaftsgericht eine entsprechende Betreuung oder Unterbringung. Das heißt: Den Ärzten war ganz genau klar, dass Frau Stein nicht wollte.“

Der zweite Aspekt: die Spätfolgen. Vera Stein – und ärztliche Privatgutachten geben ihr Recht – macht für ihren jetzigen Zustand (siehe Kasten) die damaligen Medikamentengaben verantwortlich. Die Ärzte hätten wissen müssen, dass sie die verabreichten Pillen und Spritzen angesichts der – wenngleich abklingenden – Kinderlähmung nicht hätten geben dürfen. Denn die Medikamente, so der Tenor von Steins Gutachten, wirkten auf das ohnehin geschädigte Nervensystem. Kenntnisse, die auch schon Ende der 70er Jahre vorlagen – erklärten zugunsten Steins zwei renommierte Fachleute: Dr. Charlotte Köttgen, Leiterin des Jugend-psychiatrisch/-psychologischen Dienstes des Hamburger Jugendamtes und der Toxipharmakologe Prof. Bernd Lößner.

Der vom OLG bestellte Gutachter Prof. Rudolf – dessen Veröffentlichungen vom Hoffmann-La Roche-Konzern unterstützt werden – hat anders befunden, und dem schließt sich das Oberlandesgericht an: „Die von den Ärzten der Beklagten eingesetzten Medikamente ... waren üblich und entsprechen dem Sachverständigen zufolge den Regeln der ärztlichen Kunst ... Es habe im Behandlungskontext keine Alternative zu diesen Medikamenten bestanden, wollte man schweren Schaden von der Klägerin abwenden. Trotz intensiver Literaturrecherche zu der Frage, ob im Hinblick auf die Vorerkrankung der Klägerin, das heißt die Kinderlähmung, die verwendeten Medikamente kontraindiziert gewesen seien, hatten sich keine Informationen darüber gefunden, dass man bei chronischen Lähmungen keine Neuroleptika verwenden dürfe. In den Fach- und Handbüchern zur Psychopharmakatherapie gebe es dazu keine Hinweise.“

In „Fach- und Handbüchern zur Psychopharmakatherapie“ wohl nicht, in anderer Fachliteratur – und darauf beziehen sich die Gutachter Köttgen und Lößner – sehr wohl. Gutachter Rudolf hatte imProzess mit Hinweis auf besagte Literatur sämtliche Zusammenhänge verneint, außerdem sei er kein Fachmann für Kinderlähmung.

Anwältin Ilse Dautert zieht ein bitteres Fazit: „Wenn dieses Urteil Schule macht, kann man es lesen wie eine Anleitung zur psychiatrischen Unterbringung missliebiger Angehöriger ohne Unterbringungsbeschluss. Man nehme sich einen ungeliebten Angehörigen, suche sich einen Arzt, berichte von merkwürdigen Verhaltensweisen und schließe einen Behandlungsvertrag für ihn ab – schon hat man die Unterbringungsgesetze umgangen. Das ist die Quintessenz dieses Urteils. Eine Katastrophe.“

Vera Stein wird beim Bundesgerichtshof Revision einlegen – vorerst die letzte Instanz. Dazu die Anwältin: „Aus dem Komplex, ob ein Volljähriger ohne Vertretungsvollmacht für sein volljähriges Kind einen Vertrag abschließen kann, der ohne Einwilligung wirksam ist, könnte man unter anderem eine grundsätzliche Bedeutung konstruieren, die möglicherweise ein Revisionsgrund ist. Aber die Annahmerate beim BGH ist sehr niedrig, etwa bei zehn Prozent. Man kann nur hoffen.“ sgi