Wahnsinn in Zentimetern

Nur der Stadtreinigung ist es zu danken, dass Hamburg gestern nicht im Schneechaos versank. Aus dem Katastrophengebiet berichtet  ■ Peter Ahrens

Diese Zeit gebiert neue Helden. Zum Beispiel der unbekannte Mitarbeiter der Stadtreinigung. Er hat die Stadt gestern gerettet. Die Stadt, die zu versinken drohte im „Schnee-Chaos“ (NDR). In der es hieß: „Nichts geht mehr“ (dpa, Spielbank Hamburg). Eine Stadt, in der es „auf den Straßen teilweise zu chaotischen Verhältnissen kam“, in der „Tausende und Abertausende zu spät zur Arbeit“ (alles NDR) kamen. Diese Stadt hätte gestern darben müssen, vielleicht hätte sie diesen Tag überhaupt nicht überlebt. Wenn die Truppen der Stadtreinigung nicht gewesen wären.

Hamburg im Würgegriff des Winters: Jeder Schneemann in Wahrheit ein Reporter der Hamburg Welle. Endlich passiert mal etwas Spektakuläres in dieser Stadt, alle verfügbaren Leute müssen raus: Recherche seit vier Uhr in der Früh, mit Zollstock im Gepäck. Triumphmeldungen: 11 Zentimeter Neuschnee auf der Wilhelmsburger Reichsstraße, 13 Zentimeter in den Vierlanden. Jahrelang waren sie neidisch auf ihre Kollegen vom Bayerischen Rundfunk, die über Wochen lässig mit halben Metern Neuschnee-Meldungen balancieren konnten, jetzt einmal können auch sie fragen: „Wie ist die aktuelle Lage in Fuhlsbüttel? Wir sind verbunden mit unserem Kollegen live vom Flughafen.“ Endlich auch einmal im Norden die erlösenden beiden Sätze: 1. „Der Wintereinbruch hat die Straßen in Rutschbahnen verwandelt.“ 2. „Zahlreiche Autos mit Sommerreifen blieben mitten auf der Fahrbahn liegen.“

Und es wäre alles noch viel schlimmer gekommen, aber – und jetzt kommt die Stadtreinigung auf den Plan: Modernes Krisenmanagement, innovativ, über den Tellerrand hinaus geschaut. Mit den größeren innerstädtischen Straßen haben sich die städtischen Saubermacher gar nicht lang aufgehalten: Holstenstraße, Hoheluftchaussee – da muss man nicht Schnee räumen. Von den Wohn- und Nebenstraßen müssen wir gar nicht erst reden. Die Leute sollten schließlich wissen, dass sie an solchen Tagen ihre Wohnungen nicht verlassen und Fenster und Türen schließen sollten.

Irgendwann, etwa so gegen Mitte März, können sie dann wieder vor die Türschwelle treten und da-ran denken, auch das Fahrrad mal wieder benutzen zu können, ohne sich gleich aufs Maul zu legen (abgesehen davon, dass man dann noch bis in den Juli hinein diese kleinen ekligen schwarzen Griesel überall zwischen den Schuhrillen stecken hat, die man noch monatelang auf alle weißen Teppiche dieser Stadt abtritt – Granulat). Also kann der Schnee dort ruhig liegen bleiben. Die Hamburg Welle freut sich auch, wie hätte sie sonst ihren Satz von den Sommerreifen unterbringen können, wenn die Straßen schon wieder frei geräumt wären?

Und Tausende und Abertausende kamen dadurch in den Genuss, einmal zu spät zur Arbeit kommen zu dürfen. Nicht schon morgens um halb acht in das graue Montagsgesicht des Kollegen am gegenüberliegenden Schreibtisch schauen, sich das nasale „Haben Sie die Akte Bosse schon bearbeitet?“ des schlecht gelaunten Abteilungsleiters gefallen lassen zu müssen, nicht schon Morgenkonferenz mit dünnem Kaffee.

Aber dafür haben die Stadtreiniger Wichtigeres getan: Es sind schon seit der Vorwoche Schneepflüge in Bergedorf und anderswo im Einsatz, um die Ausfallstraßen zu den landwirtschaftlich genutzten Gebieten rund um Hamburg zu räumen, damit die Nachschubversorgung mit Lebensmitteln für die 1,6 Millionen-Stadt sicher gestellt ist. Hubschrauber-Landebahnen werden vom Schnee frei geschaufelt, um Kisten mit Apfelsinen und McChicken-Menus einzufliegen. So konnten auch gestern vor allem Schulkinder und ältere Menschen mit lebenswichtigem Vitamin C und Rindfleisch versorgt werden. Die Lebensader Hamburgs, sie pulsiert noch, trotz der 12 Zentimeter Schnee. Und das haben wir alle der Stadtreinigung zu danken. Bürgermeister Ortwin Runde (3 Stunden, 25 Minuten zu spät zur Arbeit) in einer ersten Reaktion: „Danke.“

Übrigens: Aktuelle Schneehöhe in der Hardangervidda in Norwegen: 2,15 Meter, aktuelle Temperatur: -29 Grad, Langlaufbedingungen: „Meget bra“, wie der Norweger sagt. Vom Allerfeinsten also.