„Jetzt spricht der Dinosaurier“

Für Jean-Luc Godards Film „Die Verachtung“ spielte Fritz Lang 1963 einen Regisseur. Im Jahr darauf führte Godard ein Interview mit Lang. Daraus entstand „Le dinosaure et le bébé“, eine 50-minütige Dokumentation in acht Kapiteln. Ein Auszug

Fritz Lang sitzt an einem Tisch und Godard im rechten Winkel zu ihm. Godard wirkt schüchtern, hin und wieder liest er eine Frage vom Blatt ab. Während sich Godard an seiner Zigarette festhält, zündet sich der Mann mit dem Monokel eine nach der anderen an und bläst genüsslich den Rauch in Richtung Kamera

Jean-Luc Godard: Was würden Sie antworten, wenn jemand, der sich mit dem Kino nicht auskennt, Sie fragt: „Wie definiert man einen Menschen, der sich Regisseur nennt? Ist er ein Arbeiter oder ein Künstler, was ist seine Besonderheit?“

Fritz Lang: Wissen Sie, ich mag die Bezeichnung Künstler nicht. Ein Künstler ist ein Mensch, der viel arbeitet und sein Handwerk versteht. Auch ein großer Chirurg ist meiner Meinung nach ein Künstler. Ich selbst arbeite ebenfalls viel und mag meinen Beruf.

Godard: Ich sehe das etwas anders. Van Gogh war ein wichtigerer Mensch als der Tischler, der die Staffelei gebaut hat, auf der van Gogh malte.

Lang: Da haben Sie völlig Recht. Das ist ein hervorragendes Beispiel, und ich hatte Unrecht.

Godard: Also, Sie würden sich eher als Tischler sehen . . .

Lang: Nein, nicht als Tischler, aber als Arbeiter.

Godard: Die meisten Leute glauben nicht, dass Kino Arbeit ist.

Lang: Das Publikum denkt immer, es sei das reine Vergnügen, dabei ist es harte Arbeit. Aber wissen Sie, wir beide haben etwas gemeinsam. Ich glaube, Sie sind ein Romantiker, genau wie ich. Aber ich weiß nicht, ob das heutzutage gut ist.

Godard: Heute ist das eher schlecht.

Lang: Warum?

Godard: Weil man romantisch inzwischen mit sentimental gleichsetzt.

Lang: Aber ich rede nicht von Sentimentalität. Ich will nur sagen, dass wir nicht hart sind. Hart wie die Technik.

Godard: Stimmt, die Technik ist nicht romantisch.

Lang: Ich sehe mich nicht als Maschine oder als Automat. Sie haben mich gefragt, was ein Regisseur ist. Er muss eine Art Psychoanalytiker sein. Er muss sich unter die Haut der Schauspieler begeben, und er muss wissen, warum die Menschen im Drehbuch tun, was sie tun. Eines Tages sagte jemand zu mir, er wisse genau, weshalb ich eine Szene so und nicht anders gedreht habe. Das war natürlich Unsinn. Aber seitdem verfolgt mich der Gedanke, dass unsere Filme alle unsere Sehnsüchte enthalten, alles, was wir lieben und hassen. Und wenn uns beide eines Tages jemand analysieren würde, dann würde er auch herausfinden, weshalb wir Filme machen. Ich weiß es jedenfalls nicht. Wissen Sie es?

Godard: Nein.

Lang: Dieser Mann würde es herausfinden. Und ich bin sicher, dass man auch als Regisseur etwas von einem Psychoanalytiker haben muss.

[...]

Godard: Was mir bei einem, wenn ich so sagen darf, einem alten Regisseur wie Ihnen . . .

Lang: Einem was?

Godard: Einem alten Regis seur . . .

Lang: Einem Dinosaurier!

Godard: Was mir bei Regisseuren wie Abel Gance, Renoir und Ihnen auffällt, ist Ihre extreme Jugendlichkeit. Sie interessieren sich immer für den Moment, in dem die Dinge entstehen, und zwar so als sei es das allererste Mal. Sie interessieren sich für das Neue. Glauben Sie, dass . . .

Lang: Ich glaube, dass das Kino nicht nur die Kunst unseres Jahrhunderts ist, sondern die Kunst der jungen Menschen.

Godard: Die Kunst der Jugend, das denke ich auch.

Lang: Ich habe mal ein Drehbuch geschrieben, das ich nie verfilmt habe. Dafür habe ich versucht, mich an meine Jugend zu erinnern, aber es ist mir nicht gelungen. Ich wollte einen Vergleich haben zwischen der Jugend von damals und heute. Denn heute lebt man wesentlich schneller. Denken Sie daran, wie langsam die Stummfilme im Vergleich zu denen sind, die dreißig Jahre später entstanden sind – jetzt spricht der Dinosaurier. Ich rede von 1918, 1919, als ich angefangen habe, Filme zu machen. Als das Leben schneller wurde, wurden auch die Filme schneller. Die Jugend hatte eine viel größere Geschwindigkeit zu bewältigen als wir in unserer Jugend. Heute existiert praktisch niemand mehr aus der Zeit, als wir mit dem Kino anfingen.

Godard: Es gibt Dreyer, Abel Gance und Sie.

Lang: Wir hatten damals noch keinen Ton, deshalb war alles einfach als für euch heute. Wir waren Forscher, und die Auftraggeber konnten noch nicht fordern, dass man einen Film in vier Wochen beendet. Und man konnte damals viel Geld damit machen. Heute kommen mir die Filme vor wie Brötchen. Man macht sie für den schnellen Konsum.

Godard: Aber ein Film, der bleibt, ist mehr als ein Brötchen.

Lang: Das entscheidet sich mit der Zeit und durch das Publikum. „Napoleon“ von Abel Gance ist ein Kunstwerk. Aber wie oft ist das der Fall?

Godard: Von Dreyer bleibt „La passion de Jeanne d‘Arc“ . . .

Lang: . . . vielleicht auch „Vampyr“.

Godard: Und bei Ihnen ist es meiner Meinung nach „M“. Denken Sie das auch?

Lang: Ja, ich glaube auch. „M“ ist letztlich ein Dokumentarfilm.

[...]

Lang: Sie reden in unserem Gespräch immer wieder von „uns“, aber Sie sind ein Baby.

Godard: Ja, ich bin ein Baby, das den Hintern versohlt bekommt. Und Kinder werden immer bestraft.

Lang: Warum?

Godard: Wenn das Kino die Kunst der Jugend ist, dann hat es vielleicht auch mit dieser Jugendlichkeit zu tun, dass man es immer in Schach hält und so streng mit ihm ist. Ich möchte von Ihnen wissen, wie wir uns gegenüber – sagen wir nicht Zensur, sondern ein feineres Wort –, gegenüber der Tyrannei verhalten sollen. Soll man wie ein Kind alles kaputt hauen oder versuchen . . .

Lang: Ich kenne mich mit Kindern nicht aus.

Godard: Aber mit der Tyrannei .

Lang: Ich habe mal einen Film namens „The Woman in the Window“ gedreht. Da gab es eine Traumszene, in der eine Frau versucht, einen Mann zu vergiften. Sie wurde herausgeschnitten, und zwar nur in Oregon, weil es vor einigen Jahren mal so einen Fall gegeben hatte. Diese Art der Zensur gibt es überall. Stimmt es zum Beispiel, dass es in Frankreich, und Sie wissen, wie sehr ich Frankreich liebe, nicht möglich ist, einen korrupten Beamten oder Politiker zu zeigen?

Godard: Es geht tatsächlich nicht. Es ist zwar so, dass ich drei Viertel meiner Filme nur in Frankreich und nicht in Russland oder Amerika drehen kann. Aber gibt auch Filme, die ich nur in Russland oder Amerika drehen könnte, einen Kriegsfilm zum Beispiel.

Lang: Weil die Generäle in Frankreich immer Recht haben müssen?

Godard: Man kann keinen Kapitän oder General zeigen, der sich irrt.

Lang: Wirklich nicht?

Godard: Wirklich nicht. Es gibt zum Beispiel noch keinen wirklichen Film über die Zeit der Besetzung.

Lang: Warum nicht?

Godard: Das Publikum und die Autoritäten mögen nicht, wenn etwas dokumentarisch wirkt. Man könne zum Beispiel niemals den Staatspräsidenten in einem Film auftreten lassen, während es in den Staaten kein Problem ist, wenn ein Schauspieler Kennedy spielt.

Lang: Ein Film, der in der Zeit spielt, in der man lebt, muss unbedingt dokumentarisch sein.

Übersetzung: KATJA NICODEMUS (aus: „Le dinosaure et le bébé – Dialogue en huit parties entre Fritz Lang et Jean-Luc Godard“, 1964 produziert für die Filmreihe „Cinéastes de notre temps“; mit Dank an ARTE)