: Auslese mit Rechenakrobatik
Was gestern noch reichte, ist heute nicht mehr gut genug: Schulbehörde ändert Mindestnotenschnitt für Gesamtschüler ■ Von Sandra Wilsdorf
Wo kämen wir hin, wenn fast jeder Gesamtschüler nach der zehnten Klasse aufs Wirtschaftsgymnasium gehen könnte? Einfach so, weil der geforderte Notendurchschnitt von 3,0 eine so niedrige Hürde ist, dass zwei Drittel sie schaffen? Da könnte man ja auf die Idee kommen, Gesamtschüler bekommen ihren Realschulabschluss nachgeworfen. Deshalb hat die Schulbehörde mit einem Erlass dafür gesorgt, dass künftig statt 75 nur noch etwa 40 Prozent nach der zehnten Klasse den Sprung von der Gesamtschule auf Technische-, Wirtschafts- oder Aufbaugymnasien schaffen. Sie begründet das mit einer Ungerechtigkeit, die sie auf diese Weise beseitigen will. Bisher haben Gesamtschüler für gleiche Leistungen bessere Gesamtnoten als Realschüler geerntet.
Schuld daran ist das Zensuren-system der Gesamtschule. Das geht nicht von 1 bis 6, sondern vergibt A1 bis B4 insgesamt neun Notenstufen. Ende der zehnten Klasse müssen sich die Gesamtschüler vergleichen, weshalb die Buchstaben in Sehr Gut, Ausreichend oder Ungenügend umgerechnet werden müssen. Das geschah bisher mit einem Verfahren, das Durchschnittsnoten um einiges besser als die der Realschüler aussehen ließ, weshalb es die Gesamtschüler auch leichter hatten, die Notenhürden für weiterführende Schulen zu überspringen. Die Schulbehörde hat anhand von 244 Gesamtschulzeugnissen untersucht, was das für Auswirkungen hat: Nur noch 75 – statt bisher 100 – Prozent landen bei einem Durchschnitt von 3,5 oder besser, nur noch 40 – statt bisher 75 – Prozent kommen auf 3,0 oder besser.
Still und leise hätte die Behörde am liebsten die seit 20 Jahren übliche schiefe Zahlenebene begradigt. Doch das haben einige Eltern verhindert, weil sie mit der Informationspolitik unzufrieden waren: Die Arbeitsgemeinschaft der Elternräte der Gesamtschulen in Hamburg kritisiert, dass die Neuregelung ab sofort gilt. Denn die jetzigen Zehntklässler wurden aufgrund des alten Schnitts über Berufs- und Weiterbildungsmöglichkeiten informiert: „Unserer Meinung nach muss es für den jetzigen Jahrgang 10 noch eine Zulassung nach dem alten Verfahren geben.“
Senatorin Ute Pape (SPD) aber fühlt sich an den Senatsbeschluss gebunden und hat folgendes ersonnen: Die jetzigen Zehntklässler können im Einzelgespräch mit einem Zulassungsausschuss zum Härtefall erklärt werden und dann mit dem bisher ausreichenden Schnitt weiterkommen. Gert Rauschning von der Schulbehörde gibt zu: „Der Informationsfluss war nicht so gut.“
Elimar Sturmhoebel, Elternvertreter in der 10b der Gesamtschule Bergstedt, findet die ganze Änderung überflüssig: „Schule sollte Chancen geben statt Chancen zu nehmen.“
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