Kampf den Worten

Die Sprache, „dieses miese, elende Verständigungsmittel“: Die Volksbühne erinnerte mit einem für sie typisch performativen Spektakel einen Abend lang an den Kölner Dichter Rolf Dieter Brinkmann

von MICHAEL SAAGER

Aus den Lautsprechern im großen Saal der Berliner Volksbühne ertönt ein durchdringender, immer schrillerer Ton. An seinem abrupten Ende steht seine Verwandlung in den Schrei einer Frau. Im Hintergrund der Bühne befinden sich sechs wie Tierfelle aufgespannte Rechtecke aus Gummi, ein nackter Mann bewegt sich rhythmisch in ihnen entlang, sichtbar nur in seinen Konturen, die sich im gespannten Gummi abdrücken. Vier weitere Personen befinden sich noch auf der Bühne.

Unter der künstlerischen Leitung Elettra de Salvos hatten sie sich am Donnerstagabend in der Volksbühne vorgenommen, im Rahmen der „Rolf-Dieter-Brinkmann-Nacht“ Texte und Gedichte des Kölner Pop-Poeten in einem performativen Spektakel zu inszenieren. Hätte er nicht im Londoner Linksverkehr ein Auto übersehen, wäre Rolf Dieter Brinkmann letztes Jahr 60 geworden.

Seiner Popularität indes mag dieser frühe Tod vielleicht sogar nützlich gewesen sein: 26 Jahre sind seither vergangen, und noch immer ist Brinkmann Gegenstand geradezu kultischer Verehrung. Die Lobpreisungen seines Werkes sind dabei durchaus prominenter Herkunft. Heiner Müller nannte ihn „das einzige Genie in der westdeutschen Literatur“, und Klaus Theweleit galt er als der „einzige deutsch schreibende Poet ... dieser Jahre, der es wirklich aufnehmen konnte mit den Wörtern“. Und mit Wörtern hatte Brinkmann es meist zu tun in seinem quälenden Kampf gegen die Sprache, „diesem miesen, elenden Verständigungsmittel“. Da er als Dichter aber einfach nicht um sie herumkam, suchte Brinkmann, beeinflusst von den US-amerikanischen Beat-Poeten, vor allem in den 60er-Jahren nach neuen sprachlichen Ausdrucksformen. In hitzig-intensiven, beinahe taumeligen Sätzen schrieb er unzählige Selbst- und Alltagsbeobachtungen nieder. In seinen „Materialienbänden“ collagierte er Wörter mit Bildern und verwandelte auch sonst alles, was er sah und fühlte, zu einer radikalen Literatur in seinem Sinne. Die wiederum hatte nichts gemein mit sonstiger Literatur im Deutschland dieser Zeit, umso mehr mit der Sprache Rimbauds, Artauds und Burroughs.

Dass die lange Brinkmann-Erinnerungsnacht nicht auf einen seiner Geburts- oder Todestage fiel, hätte Brinkmann wohl kaum gestört, zu wenig gab er auf bürgerliche Rituale. Da er aber zeitlebens an der Kombination möglichst vieler poetischer Ausdrucksformen arbeitete, wäre er über den Patchworkcharakter der Veranstaltung mit Sicherheit erfreut gewesen: Es gab an diesem Abend einen Büchertisch, Videos, Lesungen, Hörspiele, eine Tanzveranstaltung und einen Kurzvortrag von Ralf Rainer Rygulla, der 1968 gemeinsam mit Brinkmann die Anthologie „Acid“ herausgegeben hatte.

Auf der Podiumsdiskussion zeigten ausgewiesene Brinkmann-Kenner ihr Wissen vor. Das ging so weit in Ordnung, allerdings hätte Brinkmann wohl nichts mehr gehasst als verständiges akademisches Geschwätz über sein Werk und seine Person.

Eigentliches Zentrum der Veranstaltung war die Performance „Fleisch wucherte rum“. Hier erzeugten der Komponist Oliver Augst und der Videokünstler Theo Roos zunächst einen beeindruckenden Rahmen aus Tönen und Bildern für die performativen Darbietungen von Blixa Bargeld und Elettra de Salvos. Um die Spannung über zwei Stunden lang auf einem möglichst hohen Level zu halten, hatte man sich eine einfache, aber effektive Dramaturgie episodisch aufeinander folgender Gegensätze ausgedacht: Auf Ruhe folgte Krach; dunkle Töne zogen schrille nach sich; einfaches Sprechen verwandelte sich in Songfragmente mit Gesang. Nichts davon währte so lang, dass man es sich hätte darin bequem machen können.

Brinkmann liebte das Plötzliche, und so wurde man mehr grob als sanft von einem Zustand in den nächsten geschubst: Bargeld und Salvos selbst wirkten die ganze Zeit wie besessen von Brinkmanns Texten, die sie teilweise völlig fragmentarisiert und neu kombiniert hatten.

Und beinahe hatte man ganz vergessen, dass es ja Bargeld, der extrovertierte Kopf der Einstürzenden Neubauten, war, der hier rhythmisch phrasiert Brinkmann las, da er wie auch Salvos regelrecht in den Texten Brinkmanns verschwanden – so intensiv waren die Worte des Dichters und so spektakulär war der Vortrag der beiden. Einen Abend lang hatten sie es geschafft, Rolf Dieter Brinkmann in ihren Körpern und Stimmen wieder lebendig werden zu lassen.