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Wohltätigkeit und Propaganda

aus Rabat REINER WANDLER

Unverputzte Hohlblockbauten, notdürftig zusammengezimmerte Fenster und Türen, hinter manchen Mauern ist sogar nur eine Folie als Zelt aufgespannt – das ist Mers el Kheir. Die Bewohner stammen aus den Bidonvilles am anderen Ende des Ortes Temara, aus den Slums an der Autobahn zwischen der marokkanischen Hauptstadt Rabat und dem wirtschaftlichen Herzen des Landes, Casablanca. Das Gelände hat der Staat zur Verfügung gestellt. Um den Bau der Häuser müssen sich die Leute selbst kümmern.

„Neuansiedlung“ nennen sie das in den Amtsstuben der Hauptstadt. Aber von Infrastruktur keine Spur. Die Schneisen zwischen den Häusern, die auf den Plänen als Straßen eingezeichnet sind, wurden nicht planiert. Die Hügellandschaft aus Bauschutt und Erde verwandelt sich bei jedem Regen in ein Schlammbad. Trinkwasser holen die Menschen aus einem Brunnen, und Strom zapften sie bis vor kurzem von den Laternen ab. Bis das Netz zusammenbrach. Wer es sich leisten konnte, hat jetzt eine Batterie, mit der zumindest der Fernseher funktioniert.

„Nur die Hälfte der Kinder hier geht zur Schule“, berichtet Mohamed. Der Mann, Mitte 30, arbeitet für eine marokkanische Nichtregierungsorgansiation. In einer von der spanischen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ angemieteten Baracke bringt Mohamed einem Teil von denen, die außen vor bleiben, das Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Seine Kollegin Fatima macht Hausbesuche. Auf die Frage, ob sich etwas geändert hat, seit der junge Mohamed VI. im Juli 1999 den Thron bestieg, antwortet sie: „Ja, die Leute reden offener. Sie fordern ihre Rechte. Aber das ist auch schon alles.“

„Der Durchschnittsbürger lebt genauso wie vor sechs oder zehn Jahren“, urteilt auch Nadja Yassine auf die Frage nach Reformen. Die Tochter des im vergangenen Mai nach zehn Jahre Hausarrest freigelassenen Scheichs Abdessalam Yassine ist die Sprecherin der von ihrem Vater geführten, wichtigsten islamistischen Bewegung des Landes: Al Adl Wal Ihssane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit).

Die Islamisten stoßen vor allem in den Außenbezirken der großen Städte auf Sympathie. Sie nutzen die von ihnen kostenlos angebotenen Ärztebesuche und Alphabetisierungskurse für Propaganda. Den für ihre Arbeit notwendigen Nachwuchs gewinnen die Islamisten an den Hochschulen des Landes. Wo einst Sozialisten und Kommunisten das Sagen hatten, geben heute die „Bärtigen“ den Ton an. Die Islamisten sind davon überzeugt, dass das Übel „in der Verwestlichung der marokkanischen Gesellschaft liegt“. Eine Rückbesinnung auf die Grundwerte des Islam tue deshalb Not.

Solche Worte stoßen auch in Mers el Kheir auf offene Ohren. Einmal die Woche kommen die Islamisten hierher und verbreiten ihre „Wohltätigkeit“. Auch Lehrer Mohamed und seine Kollegin Fatima können ihre Sympathie für die Leute von Al Adl Wal Ihssane nicht verheimlichen. Die ideologische Beeinflussung stört Mohamed nicht: „Die Religion richtig zu erklären, das ist doch eine gute Sache, oder?“

„Unser Produkt ist attraktiv und originär“, erklärt Nadja Yassine, die ein paar Semester an französischen Hochschulen absolviert hat. Ob eine Demonstration gegen eine Reform des Familienrechtes, das die Frau mit dem Mann gleichstellen soll, oder in Solidarität mit der palästinesischen Intifada – Al Adl Wal Ihssane bringt bis zu einer Million Menschen auf die Straße. Zu den Wahlen 2002 werde ihre Bewegung auch dann nicht antreten, wenn sie bis dahin vollständig legalisiert sein sollte, versichert Nadja Yassine. Was sie allerdings nicht erklärt, ist, warum Al Adl Wal Ihssane neben der spirituellen Hierarchie politische Parallelstrukturen aufbaut.

„Der Erfolg der Islamisten beruht auf der Ignoranz der Leute“, versichert Innenminister Ahmed al-Midaoui. Während er jedwede sozialen Gründe für den Erfolg der „einzigen noch existierenden Opposition“, wie Yassine ihre Bewegung gerne nennt, weit von sich weist, schickt er die Polizei an die Hochschulen. Über 100 studentische Anhänger von Al Adl Wal Ihssane wurden allein im letzten November verhaftet. 14 von ihnen wurden mittlerweile wegen der dabei provozierten Ausschreitungen zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Während Midaoui für die Peitsche zuständig ist, kümmert sich Kollege Mohamed Saiq vom Ministerium für Religionsangelegenheiten um das Zuckerbrot. Er richtete in den Moscheen der großen Städte zahlreiche Alphabetisierungskurse ein. Und die Stiftung Mohamed V., die dem Königshaus unterstellt ist, lässt während des Fastenmonats Ramadan an die Armen Pakete verteilen.

„Flickschusterei“ nennt dies Mohamed Boukili, der Sprecher der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH). „Die soziale Lage im Land ist der gröbste Verstoß gegen die Rechte der Bürger“, ist er sich sicher. Trotz der Anstrengungen im Bildungsbereich konnte die „Regierung des demokratischen Wechsels“ unter Regierungschef Youssoufi in ihren ersten beiden Amtsjahren die sozialen Probleme des Landes nicht einmal im Ansatz lösen. Für die wortreich angekündigten sozialen Reformen fehlt das Geld.

Premier Youssoufi ist dennoch weit davon entfernt, sein Scheitern einzugestehen. Er bezeichnet seine Politik als „einen ständigen revolutionären Prozess“. Für AMDH-Sprecher Boukili ist das eine „Farce“. Denn auch die politische Öffnung sei „nichts weiter als eine Schimäre“, urteilt er. Seit dem Mai vergangenen Jahres sei keine einzige Demonstration mehr genehmigt worden. „Egal um was es geht, die Polizei schreitet hart ein“, sagt Boukili. Die drei kritischen Wochenzeitungen des Landes wurden Anfang Dezember geschlossen. Und erst Mitte Januar wurde dem Herausgeber von zweien dieser Blätter gestattet, zwei neue Publikationen auf den Markt zu bringen.

„Wir haben alle Teile des Puzzles, aber keiner weiß, wie man es zusammensetzt“, mein Abdelali Benamour. Der Wirtschaftswissenschaftler aus Casablanca ist 1983 bei den Sozialisten ausgetreten. Seit Mitte der 90er versucht er, Leute aus den Linksparteien für eine „breite, sozialdemokratische Partei“ zu gewinnen. „Nur wenn wir die Linke wieder aufbauen, können wir die Probleme des Landes angehen“, ist er überzeugt. Die alten Parteien seien zu „konservativen Apparaten“ verkommen. Die Veranstaltungen seiner Gruppe „Alternatives“ bekämen immer mehr Zulauf.

Im Hinterkopf hat Benamour natürlich auch die Furcht vor einem Erstarken der Islamisten. „Deren Stärke ist die Schwäche des restlichen politischen Spektrums“, meint er. Falls sich die Islamisten für eine Kandidatur entscheiden sollten, könnten sie durchaus zur stärksten Partei werden, glaubt er. Was dann? „Dann kann nur noch der König sie stoppen!“, versichert Benamour.

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