: Baden gehen trotz Crash
Aktionäre und Unternehmen leiden kaum unter Kursverlusten – gefährdet sind vor allem die Nichtaktionäre
von HERMANNUS PFEIFFER
Die Börse macht arm. Wer im vergangenen Jahr 1.000 Mark in Telekom-Aktien angelegt hatte, konnte sie an Silvester nur noch für armselige 450 Mark verbuchen. Die Verluste aller deutschen Aktien summierten sich bis Dezember auf eine runde Billion Mark. Der Markt stagniert. Trotzdem grassiert unter Aktionären nicht die neue Armut. Vielmehr könnten die Nichtaktionäre die Verlierer der Börsenkrisen sein.
Viele Kurse sackten während des Jahres 2000 tief in den Keller. Seit dem Höchststand im März verloren die Aktien der 30 größten deutschen Konzerne ein Viertel ihres Wertes. Noch heftiger traf es die lange umjubelte „Neue Ökonomie“: der Aktienindex des Neuen Marktes verlor 75 Prozent. Aber auch Internationalisten traf es hart: Die Konzerngiganten im Euro-Stoxx- Börsenbarometer hatten am Jahresende fast 900 Milliarden Mark weniger Marktwert als noch im März. Ähnlich mies schnitten die Börsen in New York und Tokio ab.
Trotz dieser gigantischen Abstürze waren die realen Schäden klein. Kursverluste bleiben nämlich so lange virtuell, wie eine Aktie nicht verkauft wird – und verkauft wurde wenig. „Es wurde kein Geld verbrannt“, analysiert Burghard Pahnke, Volkswirt am Deutschen Aktieninstitut (DAI). „Ein großer Teil aller Aktien wird nicht gehandelt.“ Und wo kein Handel, da kein Verlust.
Dass trotz allgemeiner Zurückhaltung die Börsen so rasant herumirren, liegt an ihrem spielerischen Wesen. Ein relativ kleiner Teil der Aktien „macht“ die Kurse. Theoretisch reicht dafür sogar nur eine einzige Aktie aus. Findet ein Aktionär zu einem Preis von beispielsweise zehn Mark einen Abnehmer für seine Telekom-Aktie, würde der Telekom-Kurs auf zehn Mark sinken. Ganz so skurril spielt die Börse in Wirklichkeit zwar nicht, tatsächlich sind es jedoch nur etwa ein Prozent aller Aktien, die an einem normalen Tag gehandelt werden.
Kleinanleger verlieren im Crash (zunächst) nur Geld, wenn sie die Nerven verlieren. Das Aktieninstitut DAI meldet jedoch, dass allein unter Telekom-Aktionären Verkaufslust vorkam, und Reinhild Keitel von der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK) sagt: „Wir haben keinen Ausstieg beobachtet.“ Der Anteil der direkten Aktionäre (ohne Fonds) ist nur unwesentlich von 9,8 auf 9,7 Prozent der Deutschen gesunken.
Zu den aktuellen Verlierern gehören Banken und Versicherungen. Für ihre Geschäftsabschlüsse ist der so genannte Eigenhandel mit Aktien wichtig. Sie werden zwar ebenso wenig wie clevere Privatanleger große Verluste realisiert haben, aber sie konnten auch nicht die gewohnten Gewinne einfahren. Dies wird im kommenden Frühjahr die Bilanzen belasten. Es gibt auch Gewinner der Baisse. Vermögende Zeitgenossen und Unternehmen haben im Dezember schnell noch verlustreiche Wertpapiere verscherbelt, um Steuern zu sparen. Spekulationsverluste können mit früheren Gewinnen verrechnet werden.
Kalt ließen die Kursverluste Versager wie Thyssen (Aktienkurs minus 45 Prozent in 2000), Daimler (- 42 Prozent) oder SAP (- 25 Prozent), denn vorerst hat der Aktienkurs keine Auswirkung auf die Unternehmen. Problematisch werden schwache Börsenkurse erst auf Dauer: Will sich ein Konzern über die Börse preiswertes Eigenkapital beschaffen, werden die neuen Aktien billiger sein und daher ein paar Milliarden weniger in die Kasse spülen.
Unberührt zeigen sich die europäischen Zentralbanken. „Wir sehen keinen direkten Einfluss auf die Geldpolitik“, behauptet ein Sprecher der Deutschen Bundesbank gegenüber der taz, und auch für Europa sei die Börsenflaute „kein Indikator“. Euro-Kritiker Professor Wilhelm Hankel widerspricht: „Die aktuellen Börsenturbulenzen sind Auslöser eines Konjunkturabschwungs.“ Dieser werde durch die „Mauerpolitik“ der Europäischen Zentralbank verstärkt, die sich im Gegensatz zur amerikanischen Fed weigert, die Zinsen zu senken.
Über Umwege könnten die virtuellen Börsenverluste hierzulande die Nichtaktionäre real treffen. In den USA geht es schon jetzt nicht nur um psychologische Effekte. Zum einen haben die Amerikaner viel mehr Spargroschen als die Deutschen direkt oder indirekt in Aktien investiert. Zum anderen steht hinter dem US-Konsumrausch, der in den Neunzigern einen grandiosen Wirtschaftsboom bescherte, der Pump auf Aktien. Als Sicherheit für die Konsumkredite sind Aktien hinterlegt. Fallen deren Kurse jedoch noch tiefer, könnten millionenfach Kreditverträge platzen. Das folgende Beben der US-Wirtschaft wäre auch hierzulande zu spüren.
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