: Portishead 110
„Bei Klingelzeichen Mord“ beweist endgültig: Der „Polizeiruf“ ist dem „Tatort“ überlegen
von THORSTEN PILZ
Eine Lehrerin stolpert aus dem Klassenraum und bricht tot auf dem Flur zusammen: ermordet durch einen gezielten Messerstich, direkt ins Herz. Ein Schüler hat die Tat begangen, die ganze Klasse hat sie beobachtet – und schweigt. Ein angekündigter Mord, ein grausamer Tod. Bis kurz vor Schluss weiß der Zuschauer nicht, welcher der Jugendlichen tatsächlich zugestochen hat.
Aber eigentlich spielt das auch keine Rolle. Denn jeder der halbwüchsigen Jungen und Mädchen hätte es sein können. Gründe gab es genug, nur hatten die wenigsten mit dem Opfer selbst zu tun. Natürlich war die Lehrerin Katja Kamp (Gudrun Gabriel spielt sie als Karikatur) ein Alptraum für jeden Schüler: autoritär, verletzend, ohne jedes Gespür für ihren pädagogischen Auftrag: „Wir sind doch kein Service-Unternehmen für gelangweilte, desorientierte Schüler“, faucht sie einen Kollegen an, als dieser empfiehlt, ihr Verhalten zu überdenken. Nein, es gibt keinen Grund, die Frau zu mögen. Aber sie gleich umbringen?
Der „Polizeiruf 110: Bei Klingelzeichen Mord“ (So., 20.15 Uhr, ARD) führt den Zuschauer und die Potsdamer Kommissarin Wanda Rosenbaum (sensationell: Jutta Hoffmann) in eine Welt, der man selbst entkommen war: Nochmal jung sein, heutzutage, mag und kann sich niemand vorstellen. Hier wird man damit konfrontiert: mit der Zeit der Adoleszenz, der ersten Liebe und ihrer ersten Enttäuschung, der Zukunftslosigkeit, dem Gefühl, nirgendwohin zu gehören und sich stärker machen zu müssen, weil man so schwach scheint. Davon handelt der Film: von dem (Lebens-)Gefühl, in der heutigen Zeit älter sein zu wollen und zu müssen, als man eigentlich ist.
„Das, was von der Kindheit übrig ist, stirbt bei uns bereits zwischen zehn und zwölf – unwiederbringlich“, sagt die um Fassung ringende Kommissarin ob der Tragödie, die sich vor ihren Augen abspielt. Doch sie, selbst Mutter einer Tochter, die sie nicht mehr recht verstehen mag, behält einen kühlen Blick, zeigt kein Mitleid angesichts der grausamen Tat und kommt so den Schülern näher – mit teilweise drastischen Methoden: Sie zeigt ihnen ein Videoband, auf dem die Jugendlichen sehen, wie die Leiche ihrer Lehrerin seziert wird. „Man muss sie erschüttern, sonst haben wir in ein paar Jahren zwanzig Krüppel mehr“, begründet Rosenbaum ihr Vorgehen – und schafft es schließlich, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Zum Schluss hat sie den Mord aufgeklärt. Ob sie auch ein paar Seelen retten konnte, bleibt fraglich.
Dieser Polizeiruf vom Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) verzichtet auf vermeintlich kluge Analysen, legt den Darstellern keine wohl formulierten Thesen in den Mund: er lebt ganz von dem Lebensgefühl dieser sich verloren fühlenden Generation. Während des Abspanns hört man die britische Band „Portishead“ singen: „How can it feel this wrong?“ – Mehr Erklärung gibt es nicht.
Fällt eigentlich auf, das die besseren Krimis am Sonntagabend im Ersten derzeit nicht der eben mit viel Tamtam 30 Jahre alt gewordene „Tatort“, sondern schon seit einiger Zeit der „Polizeiruf“ beisteuert? Die 1971 in der DDR geborene und dort beliebte und äußerst erfolgreiche Serie (153 Folgen bis 1991, die fast alle Gottschalk-Quoten verzeichneten) wirkte lange Zeit wie das Ost-Schmuddelkind neben dem Krimi-Aushängeschild aus dem Westen. Das hat sich geändert. Längst scheinen etliche Drehbuchautoren mehr daran interessiert, ihre „Tatort“-Kommissare mit verschrobenen Macken denn mit guten Geschichten zu versorgen – um sie dann als „Marke“ besser verkaufen zu können: Hier die singenden Cops aus Hamburg, da die betroffenen Ermittler aus Köln oder die toughe Powerfrau mit Gefühl aus Ludwigshafen. Was bei aller „Persönlichkeit“ dabei vergessen wird, sind spannend erzählte Storys, durchdachte Plots mit komplexen Charakteren – genau beobachtet in ihrer Umgebung.
Dass der Polizeiruf quotenmäßig noch vom Tatort abgehängt wird, ist deshalb eigentlich verwunderlich. Aber vielleicht hält sich da noch die Mär vom miefigen Ost-Krimi. Übrigens auch das zu Unrecht, denn mittlerweile kommen drei der derzeit fünf ständigen Polizeiruf-Kommissare aus dem Westen (München, Offenbach, Sauerland) und nur zwei aus dem Osten (Halle, Havelland). Und auch von Mief kann keine Rede mehr sein. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die meisten Krimis der Reihe in der Provinz spielen und so schon von vornherein auf die großstadtüblichen Verfolgungsjagden, Schießereien, überhaupt den ganzen altbewährten Bordell-Korruption-Massenmörder-Mix verzichten können. Spießig kommen sie deshalb nicht daher. „Portishead“ kam schließlich auch bis nach Potsdam.
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