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Wider den trivialen Trend

■ Das Viertel-Café „Andere Seiten“ mit Linksdralle ist Buchladen, Antiquariat und Café in einem und will mit gesellschaftskritischer Literatur eine Nische schließen

Gallas, Helga: Marxistische Literaturtheorie, zweite Auflage 1971, 260 Seiten. Daneben Trotzki, Leo: Literatur und Revolution, Arbeiterpresse 1994, 520 Seiten. Daneben Grünklee, Gerald: Autodidakt und Bücherwurm, 35 Jahre alt, Ladenbesitzer „Andere Seiten“. Das literarische Spektrum im Viertel-Buchcafé „Andere Seiten“ ist breit gefächert, mit kleinem Linksdrall allerdings.

Es gibt antiquarische und verlagsneue Bücher. Pädagogische, philosophische, gesellschaftskritische Bücher. Frauenliteratur und fairen Kaffee aus einer mexikanischen Kooperative. Was man aber vergeblich in den naturbelassenen Holzregalen sucht sind Trivialromane und Karma-Fibeln. Gerald Grünklee ist bekennender Anti-Esoteriker. Die Esoterik-Welle der heutigen Zeit ist seiner Meinung nach der Grund für den Erfolg des spirituell angehauchten Harry-Potter-Zyklus. Mitverantwortlich für derart unverantwortliche Trends seien aber vor allem Verlage und Buchläden. Grünklee will mit seinem Buchcafé bei dem Verdrängungsmechanismus auf dem Literaturmarkt nicht mitmachen: „Man braucht heute keine Bücherverbrennungen mehr, es wird durch den Markt dafür gesorgt, dass vieles einfach nicht mehr wahrgenommen wird.“

Diesen vergessenen, verfemten, verschütteten Autoren will Grünklee sich annehmen: „Es gibt ja Strömungen, die vielfach zu den verbannten Büchern gehören. Ich würde da zum Beispiel die Judaica, Exilliteratur oder politisch ambitionierte Bücher hinzurechnen.“ Raspe, Jan: Zur Sozialisation proletarischer Kinder, 80 Seiten, hat hier genauso seinen Platz wie Pieper: Die Geschichte des O. – Opiumfreuden und Opiumkriege, 180 Seiten. Das Café ist gedacht als Ort zum Schmökern, Plaudern, Stöbern.

Erwünscht sind aber besonders Besucher, die auch Bücher kaufen. Andere Seiten sollen ja keine anderen Pleiten werden. Grünklee stand schon einmal vor der Frage: Umorganisieren oder Aufhören? Er entschied sich fürs Umorganisieren, packte die Bestände seines hannoverschen Buchversandes Anares und zog damit nach Bremen. Der Versand blieb bestehen, der Versandsbestand wanderte in Holzregale und Grünklee stieg zusätzlich in die Buchcafébranche ein, die es bis Dezember letzten Jahres hier noch gar nicht gab.

Der Buchhändler mit dem frühlingshaften Namen hat Pläne mit seinem Ladencafé in der Brunnenstraße. Er will die Bestände im Bereich Kinderbücher ausbauen und regelmäßig Lesungen veranstalten. Zu Schwerpunkten wie Pädagogik, Exilliteratur, Antisemitismus.

Allerdings sind feste Lesungsreihen noch Zukunftsmusik. Erst einmal muss sich das Buchcafé etablieren. „Die ersten Monate sind immer die schwersten“, meint Grünklee mit hoffnungsvollem Unterton. „Wir haben bisher in der Werbung einiges versäumt.“ Die Lage in einer Seitenstraße ist zwar nicht optimal, aber immerhin gebe es dank der nahen Post Laufkundschaft. Besucher, die sich einen Nachmittag lang zum Lesen auf das „Andere Seiten“-Sofa fläzen, sind aber noch Mangelware.

Vor kurzem hat eine kleine Gruppe um Grünklee zur Unterstützung des Buchcafés und der geplanten Lesungen den Verein zur Förderung der Lesekultur gegründet. Unterstützer sind innigst erwünscht, bewegt sich doch derzeit die Mitgliederzahl noch im einstelligen Bereich. Alles steht noch ziemlich auf der Kippe. Grünklee selbst gibt dem Projekt eine Chance von 50 Prozent. „Ein ,Veranstaltungscafé' ist kein gängiges Konzept, aber durchaus tragbar.“ Von den Esoterik-Buchläden hat „Andere Seiten“ schon einmal keine Konkurrenz zu erwarten. Buchtipp zum Thema literarische Konkurrenz: Kändler, Klaus: Drama und Klassenkampf, 1974, 466 Seiten.

Susanne Polig

Das Buchcafé „Andere Seiten“, Brunnenstraße 15/16, hat dienstags bis freitags von 12 bis 18 Uhr, samstags von 10 bis 14 Uhr geöffnet.

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