Nichts als Tonspuren

Freitag findet in Hannover die deutsche Vorauswahl zum Grand Prix Eurovision statt. Ein quotenträchtiges Ereignis, das steht jetzt schon fest. Eines, das fast ohne klassischen Schlager auskommt. Anmerkungen zu Geschmackssachen und zum Siechtum einer Musiksorte

von JAN FEDDERSEN

Vor drei Jahren zelebrierte ein Trierer Sozialpädagoge eine Scharade, die er selbst einen „Kreuzzug der Liebe“ nannte. Er hieß Guildo Horn und behauptete, die „Renaissance des deutschen Schlagers“ zu befördern. Das machte schon deshalb staunen, weil dieser Mann das Gegenteil all jener Männer verkörperte, die öffentlich als Schlagersänger wahrgenommen worden waren. Im Gegensatz zu adretten Figuren wie Jürgen Marcus, Tony Marshall oder Howard Carpendale sah dieser Sänger verwahrlost aus. Die Haare ungepflegt, der schüttere Schopf nicht einmal durch ein Toupet camoufliert; sein Bauch eine Wampe, der Körper überhaupt ein Dementi jener Körpersignaturen, von denen der Philosoph Zygmunt Baumann behauptet, sie zählten zur Ausstattung moderner, erfolgreicher Menschen.

Das Leben ist manchmal komisch. Denn es war ja nicht zu bestreiten, dass dieser Guildo Horn Erfolg hatte. Seine Konzerte ausverkauft, seine Plattenverkäufe mehr als zufrieden stellend, seine TV-Präsenz unvermeidlich. Tatsächlich aber erwies sich, dass dieser Trierer zum Totengräber einer ganzen Gattung von Unterhaltungsmusik wurde. Denn das, was der Sänger vorgab zu tun, nämlich eine Wiedergeburt des deutschen Schlagers zu feiern, war – ob kalkuliert oder nicht, das war hinter seinen vollkommen erfundenen Angaben zur eigenen Person unklar – eine inbrünstige Beerdigung.

Die Lieder, die er nachsang, hießen wie die Klassiker des Schlagers aus den Sechziger-, Siebzigerjahren: „Liebeskummer lohnt sich nicht“ (Siw Malmkvist) oder „Ein Lied kann eine Brücke sein“ (Joy Fleming) oder „Wunder gibt es immer wieder“ (Katja Ebstein). Nur dass Guildo Horn und seine Jünger all diese Songs zwar melodisch makellos, vom Arrangement her aber als Rock interpretierten; nichts da mit Schlager.

Eine Mogelpackung also. Und wirklich hatten ja die heute im Schlagergeschäft tätigen Sänger und Sängerinnen nichts von diesem „Kreuzzug der Liebe“. Ob sie nun Claudia Jung oder G. G. Anderson heißen, allesamt konnten sie keinen Profit aus dieser musikalischen Wiederaufbereitung ziehen, ihre Plattenfirmen ebenso wenig. Und das ist auch nur logisch, denn die Anhänger des Guildo Horn waren ja auch keine Freunde jener Musik, die bis zu ihrer mangels Quote exekutierten Einstellung gerne in der ZDF-Hitparade vorgestellt wurde. Sie favorisierten, wenn sie nicht an einem der „Schlagerraves“ teilnahmen, eher Techno, Hiphop, kurz: eine Melange moderner Musikstile.

Was sie mit Guildo Horn feierten, war eine Nostalgie auf eine verlorene Kindheit. Eine, die in ihren gecoverten Schlagern „Tonspuren“ (Thomas Steinfeld in seinem Buch „Riff“) ihrer ersten Jahre wiedererkannten – die Musik ihrer Eltern und ihres sonstigen nahen Umfelds: Costa Cordalis, Gitte Haenning, Vicky Leandros, Cindy & Bert. Markennamen allesamt, die, anders als ihre Erben wie Kristina Bach, in der Tat nicht nur für „die Landbevölkerung und Zurückgebliebene“ (Udo Jürgens) gesungen haben, sondern sich in die akustischen Chroniken jener Jahre einzuschreiben wussten. Zeigte sich hier nicht auch die Möglichkeit, nachträglich die Brüche innerhalb der musikalischen Geschmacksbildung zu kaschieren? Die peinlichen alten Lieblingslieder aus Kindertagen wurden als ironisierter Remix wieder gruppentauglich.

Ratlos die Kulturkritik. Manche glaubten erschrocken an die messianische Formel des Guildo Horn, andere erkannten in ihm einen Anstifter der kulturellen Regression, nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die das Abendland ja nie so schnell untergehen sieht, begriff, dass in diesem Schlagermove neben vielem auch ein Lob des Feierns gegenüber der Welt zum Ausdruck kommt. Generell aber blieb es bei phänomenologischen Betrachtungen der persönlichen Art. Irgendwie war Guildo Horn okay. Aber weshalb? Keine Antwort nirgends. So blieb offen: Was eigentlich ist Schlager?

Die einschlägigen Lexika geben keine Auskunft. Das „Rock-Lexikon“, von Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos vor knapp dreißig Jahren erstmals publiziert, konnte schon deshalb keine Definition geben, weil es nicht einmal den eigenen Gegenstand zu fassen wusste. Rock ist... natürlich Uriah Heep und die Cocteau Twins, die Beatles und die Rolling Stones, aber auch Barbra Streisand. Doch warum gab es später nichts zu Céline Dion? Oder zur deutschen Songschreiberin Ulla Meinecke? Auch andere Kompendien verhedderten sich in ihren Wahrnehmungsbeschlüssen, zuletzt bewies dies das Buch „Popmusik“ von Martin Büsser, der zu erläutern unterließ, weshalb The Doors dazugehören, die Wildecker Herzbuben oder Nigel Kennedy aber nicht. Pop, so der Autor argumentlos, möge nicht wie populär buchstabiert werden.

Allen Beiträgen zum Thema Popularmusik fehlt der interessierte Blick auf sich selbst. Das „Rock-Lexikon“ trägt als geheimen Text das Verlangen in sich, alles zu integrieren, was in irgendeiner Art und Weise sich der Aufbruchstimmung der späten Sechzigerjahre, dem Geist von Woodstock und Carnaby Street einfügen lässt. Büssers „Popmusik“ hingegen kommt eher einer Teufelsaustreibung gleich: jeder Satz ein Versuch, die Kompatibilität zum Schlager, zum Pop, also zur populärsten Form des Liedes, zur real existierenden Volksmusik zu vermeiden. Nichts als erbittert geführte Distinktionskämpfe sind es, die in diesen Lektüren geführt werden, mit Philologien und Orthodoxien. Musik allerdings, die sich von den Anforderungen des bürgerlichen Kunstgesangs entfernt hat und mehr zu sprechen als zu singen scheint, ist so unfassbar, so mächtig geworden während der vergangenen hundert Jahre, dass es nur natürlich ist, wenn sich die verschiedenen Interpretationsschulen befehden: Zumeist stammt das Personal dieser Zwistigkeiten aus den Schichten der neuen Bildungsbürgerlichkeit.

Um dies zu erklären, braucht es einen Blick zurück in die Fünfzigerjahre. Die Schellackplatte galt als technisch überholt, und sie war teuer. Die ersten der neuen Tonträger aus dem leicht herzustellenden Material Vinyl tauchten auf. Gymnasiasten, bis zum Ende ihrer Schulzeit finanziell in der Regel vom Elternhaus abhängig, verfügten nicht über das Geld, diese neuen Kulturträger samt Plattenspieler zu erwerben. Lehrlinge aber konnten von ihren ersten Löhnen genug dafür abzwacken. Mit dieser technischen Innovation kam, nicht nur musikalisch gesehen, ein Stil nach Europa, der mit Stichworten wie Elvis Presley, Rock ’n’ Roll und Chuck Berry nur unzulänglich beschrieben ist; sie alle konnten nur populär werden, weil mit ihnen Modernisierung und Modernität assoziiert wurde: mit Amerika auf kultureller Butterfahrt.

Die ersten Hits – das Wort wurde damals geboren – waren Songs, die das proletarische Volk anerkannte. Gymnasiasten setzten eher auf französische Chansons, auf Liederabende, auf triebgedämpfte Arrangements überhaupt: Selbst Jazz musste cool sein.

Schlager war zu dieser Zeit das Synonym für Hit. Englisch war noch nicht geläufig in deutschen Eisdielen, in Kinos und Milchbars. Jukeboxes enthielten Titel, die von deutschen Sängerinnen und Sängern eingespielt wurden, weil die Originale noch nicht so geläufig mitzuträllern waren: Peter Alexander, Bully Buhlan, Mona Baptiste waren unsere Übersetzer.

Noch die ersten Beatles-Veröffentlichungen waren eine Domäne der industriell arbeitenden Schichten, „I Wanna Hold Your Hand“ oder „She Loves You“. Das Auditorium der Beatles bei ihren ersten Konzerten auf der Hamburger Reeperbahn setzte sich aus frühen Bohemiens oder Lehrlingen zusammen. Damals begannen die Streitigkeiten um die Deutung dessen, was da nun eigentlich eine Macht zu werden drohte: die populäre Musik, durch keine Kultur der Hauskonzerte und keine mahnenden Worte der pädagogischen Kader daran zu hindern, sich zu einem schier unüberblickbaren Delta an Flüssen und Nebenflüssen, Hauptströmen und toten Armen auszuweiten. Jean Améry, einer der wenigen dünkellosen Beobachter der neuen Kultur, verfasste 1960 ein kluges Buch („Teenager Stars – Idole unserer Zeit“) über die Größen dieser Musik, skizzierte Peter Kraus, Conny Froboess oder Heidi Brühl. Seine Texte wurden in den Folgejahren ignoriert: Bloß keine Anschlussfähigkeit!

Denn der Schlager galt spätestens Mitte der Sechzigerjahre als hoffnungslos hinterwäldlerisch, weniger bei den Arbeitern, umso mehr bei den auf kulturelle Distanz haltenden Schichten und Milieus. Alles war gelitten, sogar die Beatmusik, aber eben nicht der Schlager: Die neue Elite, die man später Achtundsechziger nennen sollte, begann auszusortieren. Marion Maerz („Er ist wieder da“) durfte im „Beatclub“ immerhin einmal mitmachen, mit „I Go To Sleep“. Das war zwar immer noch Schlager, aber auf Englisch, der Lingua franca der neuen Jugendlichen, eben doch viel mehr.

Aus einem neutralen Begriff des Schlagers für ein schichten- und milieuübergreifendes Stück Tonspur war ein negativer geworden: schlichte Kost für Spießer. Schlager war etwas für die Eltern. Das auch als implizite Kritik an jenen Musikhörern zu verstehen, die mit den neuen Differenzierungen nicht Schritt halten konnten, die in ihrer Musik – und sei sie auf Deutsch gesungen – nichts als eine Orchestrierung des Alltags verstanden, liegt auf der Hand.

Die Kritik am klassischen deutschen Schlager hatte immer das Gleiche zu monieren. Dass er kommerziell sei, dumme Texte biete und musikalisch auf komplexe Formen verzichte.

Gerade die linksliberale Elite der frühen Siebziger bis weit in die Neunzigerjahre meinte, die proletarischen Schichten vom beklagenswerten Zustand ihrer Hörgewohnheiten überzeugen zu müssen. Zwar versuchte die Theaterautorin Monika Sperr 1979 in „Das große Schlager-Buch“ mit Verweis auf die Weimarer Republik das Stigma vom Schlager zu nehmen, als das „Einfache, das schwer zu machen ist“ (Bertolt Brecht). Aber ihre Verweise auf Marlene Dietrich, auf Friedrich Hollaender und Theo Mackeben halfen nichts: Rock war toll, Schlager doof.

Schon in dieser Hinsicht nimmt es nicht wunder, dass die Organisatoren von politischen Konzerten „Wider den deutschen Repressionsstaat“ Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre, also kurz vor Ausbruch der kulturellen Eleganzwelle der Postmoderne, wenig Anklang bei Bürgern fanden, die nicht zum Protestmilieu zählten: Ina Deter und Wolf Maahn hatten aber auch so gar nichts von einem Aufbruch, der mehr Spaß und Vergnügen versprach als in der deutschen Partygesellschaft (James Last!) ohnehin schon begründet.

Erst die von Homosexuellen ästhetisierte und ins Spiel der Distinktionen gebrachte Haltung des „Camp“, von der Theoretikerin Susan Sontag schon Mitte der Sechzigerjahre formuliert und seit zwanzig Jahren auch in der deutschen Debatte (Stichwort: Neue Deutsche Welle), brach dieses Einvernehmen über das musikalisch Schickliche auf – und Guildo Horn war objektiv der einflussreichste Agent dieser Mentalität, weil für Campisten in jeder Scheußlichkeit, in jedem Kitsch die Liebe und die hohe Kunst der künstlerischen Verarbeitung von kulturellem Rohmaterial geborgen sind: „Ein Lied kann eine Brücke sein“ als Friedensangebot an die Kulturkritiker, sich ihren Tagträumen abseits der politischen Vernunft hinzugeben. Mehr aber noch als das, was Camp meint: Es war auch die Bitte um Appeasement, um das Eingeständnis, dass es keinen hierarchischen Kosmos an guten oder schlechten Geräuschen geben kann.

Immerhin: Die Kritik an der Kommerzialität wurde plötzlich für albern gehalten, weil nichts frei ist von kommerzieller Verwertung. Die These von der mangelnden Komplexität der Musik und der Simplizität der Texte wurde gekontert: Musik, will sie populär sein, funktioniert nicht als Kombination elaborierter Gedichte mit tragenden Klängen, den Formen der Klassik ähnlich; stattdessen erkannte man plötzlich in den illegitimen Musiken subversives Potenzial – und zwar je nach Gusto. Wer wolle, so das fröhlich-nihilistische Credo, könne in dem Song „Help“ von den Beatles seine Neigungen zur Revolte wiedererkennen. Andere könnten dies in einem Lied von Mary Roos finden oder in einem von Cher, oder Frank Sinatra. Oder Abba – die schwedische Band, die vom linksliberalen Establishment in Schweden zunächst gehasst wurde wie der endemische Alkoholismus der schwedischen Bergarbeiter Anfang des 20. Jahrhunderts. Heutzutage gilt das Quartett als Teil der Kultur des Landes: noch so eine Geschichte über die Segnungen der gelassenen Dekonstruktion einstiger Erregungen.

Und was ist nun ein Schlager? Inzwischen eine aussterbende Sorte Musik, die nichts mehr von der Bedeutung früherer Tage hat. Der Begriff meint ein deutschsprachiges Lied, das textlich auf Bewahrung setzt, auf Gemütlichkeit mit leicht xenophoben Zügen. Schunkeln und Mitklatschen gehören dazu. Schlager ist exklusiv zu hören auf etlichen Radiowellen, freilich mit stetig sinkenden Quoten, die Zuhörerschaft stirbt aus. Der heutige Schlager, er wird gemocht von Menschen, denen alles Englischsprachige Angst bereitet, weil sie es nicht verstehen.

Im Sinne der Definition, dass ein Schlager ein milieu- und generationenübergreifendes Stück Musik ist, das die Sphären des Undergrounds verlassen hat, weil sich alle für diesen Untergrund interessieren und in dessen Tonspuren wohl fühlen, ist der heutige Schlager keiner mehr. Er ist durch seine ideologische Zuspitzung (von außen und innen) selbst zum Underground geworden: Dieter Thomas Hecks Projekt, den deutschen Schlager als alternative Leitkultur zu den Achtundsechzigern zu etablieren, hat dem Genre den Tod bereitet – und der Friedhofsgärtner war Guildo Horn. Als Schlagersänger würde sich jedenfalls heute kaum ein deutschsprachiger Künstler bezeichnen. Reinhard Mey verwahrte sich vor drei Jahren gar gegen einen Preis, der ihm in der Sparte „Schlager“ zuerkannt werden solle: Da fürchtete einer den künstlerischen Rufmord, also die Integration in einen verachteten philologischen Kosmos.

Da es ohnehin bei aller Musik um Lebensgefühle geht, nie um Wahrheiten und Wahres, dient sie entsprechend. Manchen geht es um Erbauung, anderen um flüchtige Untermalung. Pierre Bourdieu, der ja immer das Schlimmste befürchtet und deshalb den Kleinbürger als ehernen Freund des schlichten Liedes identifizierte, hat alles als Geschmackssache begreifen wollen; als Differenzierung und Mittel zur Ab- und Eingrenzung. Schlager wurde auf diese Weise zum Schleifenton der schlichten Gemüter, der Jazz, gleich welcher Spielart, blieb immer eine Tonspur für diejenigen, die sich bei Musik vornehmlich viel denken wollen – noch so ein weites Feld der Orthodoxien. Der moderne deutsche Schlager hat, wenn man so will, andere Protagonisten. Die Prinzen, die Gruppe Echt, Stefan Raab, das Girltrio Tic, Tac, Toe, Michelle oder Zlatko, der aus dem „Big Brother“-Container ...

Sie heißen nicht mehr Nena, nicht mehr Udo Jürgens oder Wolfgang Petry – sie nennen sich Ayman, Xavier Naidoo, Die Ärzte und Sabrina Setlur. Sie bedienen sich aller musikalischen Stile, jeder Technik und jeder Ästhetik, wenn es brauchbar erscheint. Der Marschfox im Viervierteltakt ist ihnen keinen Hass wert. Er gefällt ihnen meistens nur nicht. Guildo Horn hat recht getan, seine liebsten Kinderlieder, die Schlager seiner ersten zwanzig Jahre, etwas zu entstauben. Im Sound des Rock kamen sie in ihrem Pathos wieder zu sich – klangen sie plötzlich wieder taufrisch.

Aber die Dinge des Lebens verhalten sich bekanntlich außerhalb der theoretischen Versuche, die sie zu bündeln und denkbar zu machen versuchen, ohnehin widerspenstiger. Habituelle Vorsprünge sind mit musikalischer Hardware wie in den Fünfzigerjahren nicht mehr zu erlangen, Stereoanlagen, eigene Tonstudios im Verhältnis zu den Arbeitslöhnen billiger denn je.

Gewiss scheint nur, dass jeder den Tonspuren des eigenen Herzens und der eigenen Generation folgt. Dies ist auch die insgeheime Moral des Romans „About A Boy“ von Nick Hornby. Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der von seiner Mutter davon abgehalten wird, die Musik seiner Zeit zu hören, Oasis beispielsweise. Stattdessen soll er die elaborierte, sozusagen pädagogisch geprüfte Musik seiner Mutter genießen, Joni Mitchell, Blaupause der modernen amerikanischen Liedermacherinnen. Wünschten sich Mütter früher „Junge, komm bald wieder“ von ihren Sprösslingen zu hören, so scheint es inzwischen „Woodstock“ zu sein – als Kanonisierung des angeblich Echten.

In Wirklichkeit ist das Angebot an unterschiedlicher Musik im Popularbereich so groß wie nie. Und jeder scheint sich aus diesem Fundus zu bedienen. Jeder stellt sich wie am Buffet selbst zusammen, womit er seine Tagträume zu nähren wünscht. Selbst der Begriff Mainstream – gemeint als Kritik am Pop, aber auch als Begriff vom Antijerusalem fast aller Untergrundszenen, weil kein Anhänger irgendeines musikalischen Stils möchte, dass alle ihm anhängen – verliert seinen Sinn, wenn einer sagt: „Ich habe einen ganz eigenen Geschmack. Ich mag Phil Collins.“ Der Satz ist erschreckend wahr, weil er nur besagt, dass fünf Millionen Hörer dieses britischen Popmusikers offenkundig fünf Millionen Geschichten mit ihm und seinen Liedern verknüpfen.

Diese rasende Individualisierung, bei der jeder sein eigener Diskjockey ist, muss nicht beklagt, sondern zunächst festgestellt werden. Privat, nicht für ökonomische Verwertungszwecke gebrannte CDs sind der Gipfel der Individualität – auch wenn deren häufig opulente äußere Gestaltung wieder Warencharakter und damit Massentauglichkeit simuliert.

Unbestritten kann nur sein, dass die Mehrzahl der privaten Radiostationen von der Nostalgieseligkeit der Menschen lebt. Ein „Oldiesender“, der verspricht, nichts als die „Sachen aus der guten, alten Zeit“ zu spielen, also sich als Heimat moderner Neoklassik preist, will seine Hörerschaft an die Hand nehmen, um sie auf die Spuren ihrer Kinder- und Jugendtage zu führen. Hiphop, Techno und House, so gesehen, werden in spätestens zwanzig Jahren olle Kamellen sein, musikalische Ware, geeignet auf „Oldiesendern“ alle Plätze zu besetzen. (Wobei ein Blick in die Zeitschrift Musikmarkt belehrt, dass es kein Einvernehmen mehr geben kann über das, was ein „Oldie“ ist: Gab es früher eine Hitparade, eine Chartliste, existieren in diesem Blatt allein acht – für Dance, Schlager, Rock, Pop, Volksmusik, Soul etc. Die ZDF-Hitparade einzustellen, war insofern notwendig, weil schon der Titel verwirrte: Deren Musik suggerierte fälschlich, sie repräsentiere alle Musikinteressierten, was zu einer sensationell fallenden Quote führte.)

Die Titel der Oldiesender jedenfalls haben das gleiche Schicksal vor sich wie die Hits, also die Schlager heutiger Tage: Sie sind und werden Teile eines großen Erinnerungspuzzles.

DJ Sven Väth ähnelt Dieter Thomas Heck sehr: ein Moderator von Tonspuren mit Pensionsanspruch.

JAN FEDDERSEN, 43, ist taz.mag-Redakteur. Die LP-Fassung dieses Textes steht in der aktuellen Ausgabe (Nr. 622) des Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 19 Mark