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Fastenwandern auf der Insel

„Wie neugeboren durch Fasten“ – und damit die angespeicherten Reserven des Körpers, die gefürchteten Speckfalten, dahinschmelzen, reichlich Bewegung bei ausgedehnten Spaziergängen auf Rügen. Und am Abend ein Sanddornsaft

Homöopathische Wundertropfen im Fall einer akuten Kreislaufschwäche

von ANNETTE ROGALLA

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich esse gern. Salat, Fisch, Spagetti, Brot, schönes Weißbrot, mit Oliven durchsetzt und Käse drauf. Wein, Wasser, danach Espresso und Eis. Viel Eis mit Schokokrem, Himbeeren und Sahne. Dann einen Schnaps. Oder vielleicht doch noch ein Trüffelpralinchen? Das ganze Repertoire der Dickmacher – ich liebe jede einzelne Zutat.

So oder so ähnlich beginnen viele Fastengeschichten.

Sellin. Der Ostseehimmel legt sich azurblau über das staatliche Bad. An den Straßen links zum Strand stehen ordentliche kaiserliche Villen. Frisch geputzt und weiß gekalkt. Der Sozialismus der vergangenen Tage ist weit weg. Bürgerliche Gaststuben preisen gutbürgerliche Hirschkeule und Forelle blau.

Was den Gläubigen Lourdes bietet, suchen Fastende in der Pension Tatjana. Im Andenken des Otto Buchinger verbringen sie hier ein, zwei Wochen miteinander. Buchinger, bis 1917 Arzt der Kasierlichen Marine, zwangsentlassen wegen Gelenkentzündungen und nach zweimaligem Fasten schmerzfrei bis ins Alter, ist der Guru der Nahrungsverweigerer. Seine Schüler publizieren Heilige Schriften im Sinne seiner Lehre: „Wie neugeboren durch Fasten“ oder „Heilfasten mit Leib und Seele“.

Der Auftakt zu Hause war einfach: Ananas, Birne, Apfelsine. Die süße Kost gilt als „Entlastungstag“. Hier, in Tatjanas Hinterzimmer, stehen zwei Dosen auf dem Tisch. Bittersalz und F.X.-Passage-Salz. Beides, erläutert Werner Breitmaier, putzt den Darm. Ein halber Liter warmes Wasser und gut 40 Gramm erklärt der Fastenleiter als ausreichend für mich. Wenige Stunden später beginnt meine Neugeburt. Ein selten beachtetes Organ beansprucht volle Aufmerksamkeit.

Einen Tag später meldet das Verdauungssystem ans Gehirn: Kein Nahrungsmittelnachschub mehr, es gibt kaum mehr etwas zu tun. Die Schaltstellen programmieren auf Notbehelf. Um Energie zu sparen, werden alle Körperabläufe reduziert. Als Erstes werden die Signale zwischen Magen, Darm und Hirn abgestellt. Das Hungergefühl verlässt mich.

Der Tag des Fastenden beginnt um acht am Strand. Kniebeugen, auf der Stelle laufen, den Hampelmann machen. Leichte Dehn- und Streckübungen bringen den Kreislauf in Schwung. Wer bei minus zwei Grad nicht erfrieren will, muss zügig mitmachen. Nach einer halben Stunde traben elf verschwitzte Gestalten in die Pension zurück. Auf dem Tisch im Hinterzimmer stehen Hibiskus- und Sanddorntee in Warmhalteflaschen. Bestenfalls mit einem Teelöffel Honig zu süßen.

Wenn harte Zeiten kommen, muss sich der Mensch viel bewegen. Egal, wie kalt es ist, wie scheußlich das Wetter zu werden droht, nach dem Morgentee heißt es „Auf zum Wandern!“. Drei Männer und acht Frauen ziehen in klobigen Wanderstiefeln und dicken Ohrwärmern über die Insel Rügen. Vom großen Strand bei Göhren geht es bei Gager in die Hügel hinein. Keine Erhebung wird ausgelassen, und sei sie 60 Meter hoch. Der Fastenleiter kennt die Steilküste, zeigt gelbe Sanddornbeeren auf raureifüberzogenen Büschen, macht auf Singschwäne aufmerksam und reicht im Fall einer Kreislaufschwäche homöopathische Wundertropfen.

Jeder Tag ein Bilderbuchtag. Sonne: reichlich, Himmel: blau, Touristen: keine. Rügen ist eine Entdeckung. Zwischen Sellin und Thiessow liegen Hügellandschaften, die an englische Landschaftsgärten erinnern. Bäume gruppieren sich zu weit ausladenden Sonnenschirmen, am Strand glitzert Eiskristall, die Hagensche Wiek schneidet sich fjordartig ins Land, in der Luft wartet ein Bussard auf Beute.

Bei der Bewegungstherapie beruft sich Werner Breitmaier auf seine Erfahrungen als Fastenleiter in verschiedenen Kurkliniken. Demnach soll der Körper nur das „schlechte Gewebe“ angreifen, das Schlacken sammelt und zu nichts nütze ist. Das körpernotwendige Material werde nicht angegriffen, wenn sich der Mensch nur bewege. Im Freien, bei guter Sauerstoffversorgung, geht auch der Abbau von Fett besser voran.

Überhaupt, die Fastenpysiologie. Wir lernen, dass der gierige Körper sich in den ersten anderthalb Tagen an die gespeicherten Kohlehydratvorräte heranmacht, bevor er sich am Eiweiß und dann erst am schwer abbaubaren Fett vergreift. Aber mehr als 150 Gramm Fett pro Tag baut der Mensch nicht ab, selbst dann nicht, wenn er zehn Stunden wandern würde.

Es dämmert uns, dass die Waage nach einer Woche nicht allzu viel Grund zur Freude bieten wird. Aber was sind schon ein paar Pfunde? Auf den reinen Gewichtsverlust kommt es dem Fastenden ohnehin nicht an. Die meisten sind Wiederholer. Wie Frances. Drei-, vier-, fünfmal im Jahr entsagt sie für Wochen der festen Nahrung, der Gesundheit zuliebe. Ein Unfall hätte sie beinahe die Hornhaut gekostet, ihr Augeninnendruck war angestiegen. Eine riskante Operation schien unausweichlich. Frances fastete. 32 Tage lang nahm sie nichts als Wasser, Tee und dünne Gemüsebrühe zu sich. Die Wunde verheilte fast narbenfrei. Seitdem hört sie auf zu essen, wann immer der Augendruck ansteigt.

Die meisten in der Gruppe kommen aus weniger spektakulären Motiven. „Ich will durchs Fasten zu mir selbst finden“, sagt die Leiterin einer Rechnungsabteilung. Die Fastenwoche ist ein Weihnachtsgeschenk ihres Mannes. „Meine Leber wird hier jünger“, glaubt der schwäbelnde Manager der Telekom. „Fasten könnte ein Ausstieg aus dem Fleischessen sein“, hofft der freiberufliche Lehrer. „Jeder, der fastet, sucht den Körperkontakt zum eigenen Ich“, resümiert Werner Breitmaier, der seit 15 Jahren Lehrerinnen, Professoren, Arbeitslose und Manager durch die Zeit der inneren Reinigung führt.

Die Tage vergehen wie im Flug. Kaum eine Zeitungslektüre passt zwischen Bürstenmassage, Gymnastik, kalte Abreibungen, Tee, Leberwickel, Wanderungen, Massagen und Saunabesuche. Der Verzicht bringt genügend entspannende Abwechslung ins Leben. Die innere Batterie lädt sich auf. Auch wenn mir äußerlich nichts anzumerken ist.

Der vierte Tag ist der „Tag der Stabilität“, sagt das Fastenbuch. Im Spiegel blickt mich ein scheckiges Gesicht an. Rote Flecken auf schuppentrocknen Wangen, Wasserfalten unter den Augen, eingerahmt von schattigen Ringen. Dieses Gesicht erregt Mitleid. Ich fühle mich um Klassen besser, als ich aussehe.

Wenn die Wanderer heimkommen, hat Frau Kuhlbrodt, die russische Pensionswirtin, schon den Saft gepresst. Rote Bete, Möhren, Orange und Apfel mit einem Schuss Sanddorn. Auf der Zunge prickelt der Geschmack von Erde und Sonne. Am Abend löffeln wir andächtig Gemüsebrühe bei Kerzenschein und klassischer Musik. Wie differenziert der Mensch doch schmecken kann.

Der sechste Fastentag bildet das Ende der organisierten Wanderwoche. Doch er soll nicht der Anfang vom Ende sein. Noch ein paar Tage weiterfasten, trotz Arbeit. Es geht. Fünf Tage lang hänge ich an der Wasserflasche, koche Pfefferminztee und schlecke Honig gegen die Hektik. Dann ist es abrupt zu Ende. Der Körper will mehr.

Auf dem Tisch liegt ein schöner roter Apfel, am Biobaum gereift. Ich setze das Messer an und teile ihn. Saft fließt durch die Kehle. Essen ist ein unermesslicher Genuss.

Fastenwanderungen werden von vielen Reiseveranstaltern angeboten. Adressen finden Sie im Internet: www.fastenwandern.de. Die Rügenwanderung bietet www.fasten-kolleg.de

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