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Krieg, Kunst, Kitsch und Tod

von WOLFGANG MATZ

Gewiss, immer noch werden Bücher übersetzt, werden Autoren eingeladen, Stipendien und Druckkostenzuschüsse verteilt und Theaterstücke aufgeführt. 1989 war Frankreich Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse, jetzt, im März 2001, ist Deutschland zu Gast bei der Foire du livre in Paris[1]. Doch niemand wird behaupten wollen, solche offiziellen und kommerziellen Beziehungen seien repräsentativ für einen wirklichen wechselseitigen Einfluss, für Interesse und Kenntnis an Land, Kultur und Literatur. Ein Franzose, nach den wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren befragt, nennt Grass, Bernhard und Schlink; bei einem Deutschen folgen Sartre und Camus unmittelbar auf Houellebecq. Wohl noch nie ist das Maß gegenseitiger Unkenntnis im zwanzigsten Jahrhundert so groß gewesen wie jetzt.

Dem ist mit Literatur nicht abzuhelfen. Ob fünf oder sechs Romane mehr übersetzt werden, interessiert nur die Verlage und Institutionen zur Kulturförderung im Ausland. Die Gründe für das gegenwärtige Desinteresse, das „Krise“ zu nennen schon übertrieben pathetisch wirken könnte, liegen tiefer in jenem Bereich, wo Geschichte und Kultur, gesellschaftliche und politische Veränderungen einander durchdringen. Doch man ist drauf und dran zu vergessen, was deutsch-französische Kulturbeziehungen einmal bedeutet haben.

Sie waren immer geprägt von einem Interesse, das sich dem Bewusstsein von einem fundamentalen geistigen Gegensatz verdankte, und man muss dabei nicht zurückgehen bis zu Voltaire und Friedrich dem Großen, zur Revolution von 1789 und ihrer Wirkung auf die deutsche Romantik. Das zwanzigste Jahrhundert beginnt mit dem deutsch-französischen Konflikt, und der Krieg von 1914 ist die Urkatastrophe dieses europäischen Jahrhunderts. Die Spannungen, die damals zum Ausbruch kamen, waren aber nicht ausschließlich nationaler Art, sondern gingen als ideologische Gegensätze durch die Länder hindurch. Nichts kann dafür bezeichnender sein als der Streit der Gebrüder Heinrich und Thomas Mann: Verteidigte der eine mit seinen Betrachtungen eines Unpolitischen den emphatischen Begriff Deutscher Kultur[2], so stand der andere auf der Seite eines europäischen, republikanischen und das heißt: französischen Denkens. Der Essay, in dem er seine Vorstellungen entwickelte, trägt einen einfachen Titel: Zola. Emile Zola, der große Romancier des französischen Naturalismus‘, der écrivain engagé des „J’accuse“[3], war für den deutschen Schriftsteller die selbstverständliche Identifikationsfigur im Protest gegen das wilhelminische Kaiserreich.

Der Zusammenbruch des alten Europa im Jahre 1918 ist der Beginn eines intellektuellen Austauschs, wie er später zwischen beiden Ländern so nie wieder erreicht wurde. Die Erkenntnis, dass nur eine europäische Verständigung aus nationalen Revanchegelüsten herausführen konnte, war weit verbreitet. Für die deutsche Literatur, für George, Rilke, Heinrich Mann und viele andere, war die französische bereits vor dem Krieg ein Vorbild an ästhetischer Modernität, die aus dem bürgerlichen Dekor der Gründerjahre hinausführen sollte, und in den Weimarer Jahren kam hier der politische Faktor noch hinzu.

Auf eine verquere Weise setzte sich diese besondere Beziehung in den Jahren des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besetzung fort: Einerseits war Frankreich wieder zum selbstverständlichen Exilland für die deutschen Intellektuellen geworden; andererseits waren die Jahre von Okkupation und Kollaboration der Boden für ein ebenso reiches wie zweideutiges Mit- und Nebeneinander von deutschen und französischen Autoren. Ernst Jünger in Paris, der deutsche Botschafters Otto Abetz[4]und sein Kulturoffizier Gerhard Heller – selbst ein ausgezeichneter Literaturübersetzer –, auf der anderen Seite deutschfreundliche Schriftsteller wie Drieu la Rochelle, Marcel Jouhandeau, bis hin zu der antisemitischen Raserei eines Céline – ein seltsames Spektrum von Personen, von denen manch einer ebenso mit den Kollaborateuren wie mit dem Widerstand verkehrte. Fast durchgängig aber bleibt der Wunsch erkennbar, hinter den Kriegsfeindschaften etwas von der mühsam erworbenen Gemeinsamkeit aufrechtzuerhalten.

Doch im Grunde war dies bereits Illusion: „Zwei aufeinander folgende Generationen verschwinden im Qualm und Lärm der Schlachtfelder“, schrieb André Breton[5]1942, „und da wagt man uns weiszumachen, dass diese Menschheit sich zu verwalten fähig sei, dass es ein Sakrileg sei, die Prinzipien in Zweifel zu ziehen, auf die sie ihre Existenz gegründet hat?“ Die Verständigung der Zwischenkriegszeit war an der Oberfläche geblieben oder hatte sich eben nur auf eine Reihe von Individuen des intellektuellen Europa beschränkt.

Mag sein, dass alle spätere Entfremdung aus den Missverständnissen jener Zeit entstanden sind. Die Schriftsteller der Kollaboration waren bei aller Sympathie doch immer von dem alten, unausrottbaren Misstrauen gegenüber dem fremden und nun übermächtigen Deutschland durchdrungen; andererseits hatten die deutschen Emigranten, von denen viele in französische Internierungslager kamen oder von der Vichy-Regierung ausgeliefert wurden, das einstige Vertrauen in das republikanische Frankreich verloren. Diese Missverständnisse setzen sich bis in unsere Tage fort: In Deutschland wurde nie begriffen, welche Bedeutung die Niederlage und die vier Jahre der deutschen Besatzung von Paris für das französische Selbstverständnis bis heute haben.

Die historische Erinnerung nach 1945 ging in grundsätzlich entgegengesetzte Richtungen. Eine gemeinsame Deutung dessen, was geschehen war, ein gemeinsames Interesse an dieser Deutung bestand nicht mehr. Für Deutschland ging es um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Ganz anders in Frankreich. Das Bewusstsein, zu den Siegern über den Nationalsozialismus zu gehören, diente zum Fundament für ein Nationalgefühl, das keinen Bruch anerkennen wollte und seinen kanonischen Ausdruck im Mythos der Résistance fand. Dies hat sich erst spät in den Achtziger-, Neunzigerjahren geändert. Dieser Unterschied hat aber die gesamte intellektuelle Entwicklung der beiden Länder in der zweiten Jahrhunderthälfte geprägt.

Was diese historischen Exkurse mit der gegenwärtigen Literatur zu tun haben? Da genügt ein Blick, welcher Autor in den vergangenen Jahren wohl jeweils als Neuentdeckung das größte Aufsehen im anderen Land erregt hat. In Deutschland war das zweifellos Michel Houellebecq mit seinen Elementarteilchen[6], ein junger Autor also, der bei aller Bindung an die französische Tradition des Sittenromans und des Moralismus am weitesten vorangeschritten ist in diese Gegenwart mit all ihren technischen, gesellschaftlichen und moralischen Veränderungen. Für den Franzosen war das Bernhard Schlinks „Der Vorleser“[7]. Zum einen also ein entschieden neuer Autor, dessen Thema nichts spezifisch Französisches enthielt; zum anderen ein traditioneller Roman, der das deutsche Thema des Jahrhunderts, Krieg und Judenverfolgung, noch einmal an einer individuellen Geschichte nacherzählt.

Sprechender könnte ein Vergleich nicht sein. Wollte man vereinfachen, so käme man zu einem eindeutigen Ergebnis: Hierzulande gibt es kein Interesse mehr an Frankreich und französischen Problemen, ein französisches Buch kann aber noch immer Erfolg haben, wenn es auf der Höhe der Zeit zu sein scheint; jenseits des Rheins ist Deutschland zwar immer ein Thema, aber weniger das wirkliche Land als vielmehr jene Vorstellung, wie sie nun schon viele Jahrzehnte einer veränderten Wirklichkeit überlebt hat.

Gibt es in Deutschland – das triviale von schönen Frauen, leichtem Leben und nouvelle cuisine einmal beiseite – noch ein Frankreichklischee? Wohl kaum. Frankreich hat sich umgekehrt sein intellektuelles Klischee sorgsam bewahrt, und darin ist der Deutsche eine an nebligen Küsten hausende blauäugige Mischung aus Hölderlin und Wehrmachtsoffizier, gebildet, gut aussehend und grausam und vor allem unendlich rätselhaft und dekadent. Noch im Herbst des Jahres 2000 sorgte Jean- Jacques Schuhl mit seinem Roman „Ingrid Caven“ für einen großen Überraschungserfolg. Der Klappentext des Buches fasst die Eingangsszene schöner zusammen, als jeder Kritiker es vermöchte: „1943. Heiliger Abend an der Nordseeküste: Ein kleines Mädchen von vier Jahren singt ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ für die Soldaten Adolf Hitlers. Ein halbes Jahrhundert später gibt sie als berühmte Sängerin und Filmschauspielerin zum Abschluss eines offiziellen Empfangs ein kurzes Konzert in der Festung Davids in Jerusalem ...“ In einem brillanten Patchwork hat Schuhl alles verwoben, was dem französischen Intellektuellen schön, teuer und deutsch ist: Krieg, Kunst und Kitsch, Sehnsucht und Tod.

Es ist offensichtlich: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich das wechselseitige Bild der beiden Länder nicht mehr wirklich festigen können; den Politikern ist die Jahrhundertleistung der Versöhnung gelungen, während die geistigen Milieus sich immer weiter voneinander entfernten – und besser als die umgekehrte Diagnose nach dem Ersten Weltkrieg ist das allemal. Eine letzte große Welle des Interesses gab es in den Sechziger-, frühen Siebzigerjahren, als der Existentialismus der Sartre, de Beauvoir und Camus und die sich anschließende marxistische Wendung nicht nur die Literatur beeinflusste, sondern zu einem wirklichen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomen wurde. Der spätere Strukturalismus dagegen, seine diversen Neo-Nachfolger, der nouveau roman, die Oulipisten, all das blieb auf mehr oder weniger akademische Milieus beschränkt. Vor allem aber ist diese Wirkung vollkommen einseitig geblieben. Frankreich als Land einer neuen Literatur, einer neuen Kultur und Lebensart, der großen Revolte des Pariser Mai – der Faszination durch dieses Frankreich stand auf der anderen Seite kein entsprechendes Interesse gegenüber.

Das alte, traditionelle Misstrauen Frankreichs gegenüber dem Nachbarn war geblieben, führte jedoch zugleich zu einer manchmal geradezu komischen Verklärung der DDR als das „bessere Deutschland“, das „aus der Geschichte gelernt habe, und damit zu einer bis heute andauernden Überbewertung von ideologisch korrekten Autoren. Diese Verwirrungen sind nach 1989 eher noch größer geworden. Auf dem Höhepunkt der Haider-Hysterie des Jahres 2000 veröffentlichte Le Monde einen Kommentar, in welchem ernsthaft mitgeteilt wurde, fünfzig Prozent der deutschen Bevölkerung seien heute Nazis, wozu sie vor allem durch einen unausrottbaren Franzosenhass getrieben würden. Diese Meinung an sich ist nur kurios; absurd aber ist, dass eine der besten Tageszeitungen der Welt keinen Redakteur zu haben scheint, dessen Deutschlandkenntnisse ihm erlaubten, jenseits von Meinungen den elementaren Wahrheitsgehalt solcher Aussagen zu überprüfen.

Immer noch den alten, längst vertrockneten Mythen verhaftet, hat Frankreich die lebendige Literatur Deutschlands aus dem Blick verloren. Man spielt weiter die germanischen Endspiele von Heiner Müller, liest Thomas Bernhard als realistische Literatur über das heutige Österreich, erregt sich über „politische Zensur“ an Günter Grass“8 und Christa Wolf. Provozierend wäre die Frage zu stellen: Woher sollten auch bei einer so großen realen Unkenntnis von deutscher kultureller Gegenwart die Kriterien kommen, um Neues wahrzunehmen? Umgekehrt sieht es nicht viel, aber etwas besser aus. Die junge französische Literatur hat einen geradezu spektakulären Einzug ins deutsche Feuilleton gehalten, mit Marie Darrieusecqs Schweinerei und besonders eben mit den Büchern von Michel Houellebecq; jetzt gerade wartet man auf Frédéric Beigbeders Reklame-Roman „99 Francs“, der auf Deutsch unter dem Titel „Neununddreißigneunzig“ für genau diese Summe zu erwerben sein wird[9]. Doch sehr weit geht es nicht hinaus über diese paar Namen.

Fast ausgestorben ist der literarische Vermittler, der die andere Literatur für die eigene fruchtbar machen will; der nicht nur ein Buch rezensiert, sondern auch die Kultur, die Geschichte, die Tradition und die Gegenwart eines ganzen Landes sichtbar macht. Mag sein, dass die besondere deutsch-französische Polarität endgültig dahin ist im amerikanisierten Zeitalter, mag sein, dass tatsächlich aus der Literatur, dem Film und der Musik Amerikas viel interessantere Impulse kommen als aus der Alten Welt: Für eine europäische Kultur neben der europäischen Politik und Wirtschaft wäre das ein verheerendes Zeichen. Öffentliche Großereignisse wie Buchmessen können da nur Anstöße geben. Folgen muss ihnen ein Neubeginn in einer wirklichen literarischen Vermittlung, die all das Fehlende zu leisten versucht. Wir müssen nicht gleich die Segel streichen und die alte Verbindung Paris–Berlin ausschließlich den Banken überlassen.

Die ungekürzte Fassung dieses Textes erscheint in der März-Ausgabe der Zeitschrift „Neue Rundschau“

Anmerkungen

1: Über 50 deutsche Schriftsteller beteiligen sich an der diesjährigen Pariser Buchmesse, die vom 16. bis 21. März Deutschland als Ehrengastland präsentiert. Von Günter Grass über Volker Braun, Herta Müller, Ingo Staffel und Benjamin Lebert wird die ganze Bandbreite deutscher Gegenwartsliteratur vertreten sein.

2: Die beiden Brüder, vor allem Thomas Mann, begriffen den familiären Konflikt durchaus als symbolisch für die geistigen Strömungen im damaligen Deutschland. Der “Zivilisationsliterat“, den Thomas Mann in seinen „Betrachtungen“ ausführlich schmähte, ist ein nur wenig verhülltes Porträt des Bruders Heinrich.

3: „Jaccuse!“, Ich klage an!, war der berühmte offene Brief Emile Zolas (1840-1902) überschrieben, den er in der berüchtigten „Dreyfusaffäre“ zur Verteidigung des unschuldigen Juden Dreyfus an den Präsidenten der Republik gesandt hatte .

4: Otto Abetz, 1903-1958, war von 1940 bis 1944 deutscher Botschafter in Paris und bemühte sich vergeblich Hitler und Ribbentrop zu einem weicheren Kurs gegenüber Frankreich zu bewegen. Er wurde 1949 zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, aber schon 1954 entlassen.

5: Der Text André Bretons (1896-1966) aus dem Jahr 1942 findet sich in dem bei der Europäischen Verlagsanstalt erschienenen Essayband „Das Weite suchen“, der nicht mehr lieferbar ist.

6: „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq erschien in Deutschland im Herbst 1999 bei DuMont und wurde eines der meist diskutierten Bücher der letzten Jahre. Zu der Debatte erscheint in diesen Tagen ebenfalls bei DuMont der von Thomas Steinfeld herausgegebene Band: „Das Phänomen Houellebecq“, 200 Seiten, 34,-DM

8: Vergleiche etwa das von Olivier Mannoni im letzten Jahr bei Bayard herausgegebene Buch „Günter Grass - lhonneur dun homme“. 9: Frédéric Beigbeders Skandalroman, der Ende Juli bei Rowohlt auf Deutsch erscheinen wird (“Neununddreißigneunzig“, 288 Seiten, 39,90 DM) kostete ihn seinen Job in einer Werbeagentur und brachte ihn auf Platz eins der französischen Bestsellerlisten. Es ist ein wildes Pamphlet gegen den Totalitarismus von Werbung und Medien und die liberale Pervertierung der Demokratie.

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