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Materie in Strahlenbündel zerlegt

Eine Ausstellung über die gesellschaftspolitischen Visionen der russischen Avantgarde  ■ Von Petra Schellen

Es wirkt schlicht, das Stahlkochermännchen; das Flüssigeisen tropft träge auf die knallrote „30“: Etliche solcher Gläschen wurden in Eisenhüttenstadt zum 30. Geburtstag des „Eisenhüttenkombinats Ost“ (EKO) verteilt, aus labilem Glas gemacht und eher zur Zierde als zum Gebrauch gedacht. Und wenn auch das Strichmännchen mit den ursprünglichen Ideen nicht mehr viel gemeinsam hat, ist es doch Ausdruck einer Vorstellung von Volksbildung, wie sie etliche Künstler der russischen Avantgarde lange vorher entwickelt hatten: Zwischen 1910 und 1934 entstandene Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände präsentiert die Ausstellung Mit voller Kraft – Russische Avantgarde 1910 – 1934 im Museum für Kunst und Gewerbe, die sich einem gattungsübergreifenden Konzept verschrieben hat. Zu sehen sind Beispiele aus Malerei, Skulptur, Fotografie, Plakatkunst, Keramik, Textilkunst sowie Theaterkulissen und -kostüme.

Angefangen hatte alles sehr abs-trakt: Die Entgegenständlichung der Kunst wollten Maler wie Kasimir Malewitsch und Michail Larionow betreiben; die Spannung im Raum erfahrbar machen sollten geometrische Bilder wie Malewitschs Schwarzes Quadrat. Konditionierte Sehgewohnheiten sollten aufgebrochen werden durch die entmaterialisierten Strahlenbündel Michail Larionows. Zum „neuen Sehen“ wollte Alexander Rodtschenko das Publikum durch das Kultivieren neuer fotografischer Perspektiven erziehen. Bewusst undekorativ geben sich auch Vladimir Tatlins für Massenaufführungen gedachte Theaterkulissen und Alexandra Exters Kostüme. Die Idee einer universellen Erziehbarkeit des Menschen, die die Flexibilisierung des Denkens als notwendige Folge veränderter Sehgewohnheiten ansah, lag solchen Experimenten zugrunde; erstmals sahen die Künstler nach der Oktoberrevolution zudem die Möglichkeit, durch die Gestaltung von Plakaten und Gebrauchsgegenständen am Aufbau einer neuen Gesellschaft direkt mitzuwirken: Abstrakte Muster zierten die Stoffe Warwara Stepanowas, geometrische Formen Malewitschs Services. Doch in die Massenproduktion gingen solche Entwürfe nie: Weil sich die hungernde Landbevölkerung solche „Designerware“ nicht leisten konnte und außerdem die russische Volkskunst weiterhin vorzog.

Und bald erkannten Künstler wie Kandinsky, der von 1918 bis 1921 in Moskau gelehrt hatte, die schmalen Möglichkeiten der Einflussnahme und kehrten der Heimat enttäuscht wieder den Rücken. Andere – wie Gustav Kluzis – blieben, stellten sich in den Dienst von Lenins Fünfjahresplan-Propaganda, schufen Werbeplakate und verherrlichten die industrielle Produktion in fast sakral beleuchteten Bildern.

Wenige Worte verlieren allerdings Katalog und Ausstellung über den stalinistischen Totalitarismus, in den solche euphorischen Anfänge später mündeten. Und abgesehen davon, dass Traumata eventuell noch lebender Sozialismus-Opfer für die Organisatoren keine Rolle zu spielen scheinen, irritiert auch manche Beschriftung: „Schlag gegen den Feind“ heißt ein Plakat von 1920, auf dem ein Arbeiter auf einen Amboss schlägt, der seinerseits Patronenhülsen auf ein wankendes Männchen speit: „Im Mai 1920 begann die polnische Offensive gegen Russland“ steht lapidar darunter; der folgende Text erläutert, dass solche Plakate die Arbeiterschaft zur Produktion von Waffen für den Sieg bewegen sollten. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung Polens als „Feind“ unwidersprochen bleibt, fehlt auch jede differenzierte historische Einordnung.

Welche Wirkung eine solche Ausstellung zeitigen soll, bleibt rätselhaft: Zweifellos stellten die Avantgardekünstler wichtige Weichen. Auch die Euphorie, mit der sie sich am Aufbau einer neuen Gesellschaft beteiligten, soll hier nicht bekrittelt werden. Warum aber wird diese genreübergreifende Schau so unkommentiert im Westen präsentiert? Soll hier – auf die lückenhafte Geschichtskenntnis vieler deutscher Jugendlicher vertrauend – Verständnis für eine Propaganda geweckt werden, die sich später dem Stalinismus unterordnete? Oder soll der Anschein einer lange vergangenen Ära erweckt werden, die für den unbeteiligt-liberalen Westler allenfalls historisch interessant ist? Unerfreuliche Fragen – fast so unerfreulich wie jene nach dem Grund für das großzügige Sponsorentum (es gibt neben dem aufwendigen Katalog diesmal noch Leinentasche und Tombola) unter anderem des russischen Gasriesen „Gazprom“, der wohl nicht zu den Verlierern der neuen Zeit zählt. Und der in den letzten Jahren konstant dadurch auffiel, dass er den baltischen Staaten winters wochenlang das Gas abdrehte. Ganz nach Zarenart.

Mit voller Kraft – Russische Avantgarde 1910–1934: bis 10.6., Museum für kunst und Gewerbe; Katalog 49,90 Mark; Di – So 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr

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