piwik no script img

Vergiftete Zeilen

Vom Schreibkrampf und anderen Berufskrankheiten des Journalisten

Im „Atlas äußerer und innerer Krankheiten des menschlichen Körpers“ fand ich alles wieder

Ich lese keine Leserbriefe. Grundsätzlich nicht. Leser sollen lesen, nicht schreiben. Dafür bin ich zuständig. Kürzlich aber erreichte mich eine Zuschrift, in der mir mit Vorwitz und dürren Worten unterstellt wurde, meine Schreiberei sei „ein einziger Krampf und geistige Onanie“.

Weil ich jedoch mit der Gelassenheit eines panamesischen Öltankers durch die Tage gleite, verschwendete ich an diese vergifteten Zeilen keinen weiteren meiner kostbaren Gedanken in meinem lorbeerumkränzten Haupt. Eben jenes tätschelnd stand wenige Tage darauf mein Chef hinter mir und sprach mit Sorge im Blick und Alkohol im Atem: „Unbequeme Stellung beim Schreiben, beengende Kleidung, der Druck zu enger Ärmel auf die angestrengten Muskeln, Manschetten, Fingerringe, Platzmangel, unpassende Fingerhaltung – all dies führt, mein Lieber, zu einem allmählichen Bankrott des Schreibens!“

Dies klang mir doch sehr rätselhaft, zumal ich tadelnde Worte nicht gewohnt, dem überschwänglichen Lob dagegen zugeneigt bin. Darum bat ich ihn, seine Ratschläge doch bitte der Kollegin gegenüber zuzutragen, bei der, meiner Meinung nach, der „Bankrott des Schreibens“ unmittelbar bevorsteht. „Der zierliche Tisch mancher Damen ist nur gut zum Ansehen, aber nicht zum Schreiben“, knurrte mein Chef noch und trollte sich. Hätte ich auf ihn hören sollen? Hätte es meinen Verfall abwenden können? Was ging hier eigentlich vor?

Beim feierabendlichen Champagner im Gasthaus hatte ich den Rüffel bereits weggesteckt, sog an meiner Zigarre und sann unbeirrt über Artikel, die noch nie zuvor ein Mensch gelesen. Da aber störte ein käsig-fauliger Geruch meine Kreise, und aufblickend erspähte ich – einen Leser. „Sie sind doch Schreiber, oder?“, meinte er fröhlich und prostete mir zu. „Lesen Sie mich etwa?“, fragte ich jovial und lächelte schmal. „Aber nein“, erwiderte der Leser, „das erkenne ich an Ihrem geröteten Gesicht, dem eigentümlichen Glanz in Ihren Augen, dem unsteten Blick, der Blässe Ihrer Lippen und Ihrer graublassen, erdfahlen Gesichtsfarbe. Kein Laster ist auf der Erde so weit verbreitet wie dieses, keines so leicht auszuüben wie dieses. Leider ahnt die große Mehrzahl der Journalisten nicht das Verderbliche ihres Tuns, öffnet man ihnen aber die Augen, so lassen sie meist das Laster.“ Bei seinen letzten Worten hatte ich schon die Flucht ergriffen, nur um zu Hause eine kryptische Botschaft auf meinem Anrufbeantworter vorzufinden: „Bei Fortschreiten dieses Lasters wird die betreffende Person körperlich und geistig zerrüttet, der hierdurch zur Jammergestalt gewordene Mensch wird in diesem traurigen Zustand seiner Umgebung und sich selbst zur Last.“

In dieser Nacht schlief ich denkbar schlecht. Ich litt unter Kopfdruck, Herzklopfen und hypochondrischer Verstimmung. Im Kerzenschein warf ich ein Sonett über meine Symptome aufs Papier, was aber meine Leiden nicht milderte. Im Gegenteil: Am Morgen hatten sich noch Flecken in der Wäsche, Mattigkeit und ein dumpfer Schmerz in Schenkeln und Waden hinzugesellt. Aber erst vor dem Spiegel offenbarte sich mein Verfall in voller Pracht. Unter bläulichen Lidern starrte ich mir da entgegen, mein Haar war glanzlos, spaltete sich an den Enden und fiel leicht aus. So konnte es nicht weitergehen. Auf dem Weg zur Toilette, wo hinein ich zu übergeben mich gedachte, stolperte ich über einen alten Folianten: „Atlas äußerer und innerer Krankheiten des menschlichen Körpers“ von 1922. Darin stand alles – wörtlich: über Onanie. Über Schreibkrämpfe. Über die Berufskrankheit des Journalisten. Wie Schuppen fiel es mir da von den Augen. Nur geholfen hat es nichts. ARNO FRANK

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen