: Schlager für die deutsche Welt
von JAN FEDDERSEN
„Schnulzenheini ohne Stimme“, „Tonlos im schönen Kleid“, „Unsinn nach Noten“, einfach nur „Schlagerelend“ oder die „Gaga-Strategie“: Attribute, mit denen, zu Schlagzeilen geronnen, die deutsche Vorentscheidung zum Grand Prix Eurovision belegt wurden. Freilich: Die erste Überschrift stammt aus dem Jahr 1964 und geißelte den damals unbekannten Udo Jürgens; mit der zweiten wurde Nicole bedacht, das war im Jahre 1982; das dritte Zitat war der Auftakt eines Verrisses der Sängerin Katja Ebstein aus dem Jahr 1970.
Die fünfte Schlagzeile ist allerdings hochaktuell und entstammt der Berliner Zeitung. Gagaesk sei das Spektakel, das heute abend in der Preussag-Arena in Hannover stattfindet und an dessen Ende geklärt ist, wer für Deutschland am 12. Mai in Kopenhagen beim Grand Prix Eurovision an den Start geht. Gaga – also absurd und vertrottelt? Liegt es nicht auf der Zunge, solche Gehässigkeiten zu formulieren bei einem Teilnehmerfeld, zu dem Rudolf Mooshammer gehört, der begabteste Narziss zwischen Flensburg und Berchtesgaden? Oder der Rocker Wolf Maahn, der seine besten Tage schon fünfzehn Jahre hinter sich hat? Joy Fleming gar, ein Drittel des Trios „White Chocolate“, die sich Ende der siebziger Jahren trotz gesammelten Lorbeers in der US-Soulszene um den guten Ruf beim linksliberalen Establishment brachte, weil sie offenherzig bekannte, die CDU ganz okay zu finden?
Michelle, die Sängerin, die erst richtig zur Hochform aufläuft, wenn es bei ihr privat kriselt, also nach der Trennung von Matthias Reim, zumal sie „Wer Liebe lebt“ singt? Oder die Band „Illegal 2001“, die unter anderem Michael Schumachers Penisgröße thematisiert? Gar Zlatko, der zwar sangesunbegabt, aber frech „Einer für alle“ behauptet und seit Anfang der Woche in Hannover bei den Proben so selbstbewusst herumläuft, als gäbe es keinen Zweifel an seinem Triumph? Hinzu kommen noch Beiträge aus den Segmenten Techno, Dance, Boogie, Helmut-Lotti-Klassik und Popballade. Kurzum und abgesehen vom Fehlen solcher Stile, wie sie von den „Söhnen Mannheims“ oder den „Toten Hosen“ repräsentiert werden: ein Querschnitt durch die aktuellen deutschen Hörgewohnheiten.
Im Übrigen ist dem veranstaltenden NDR jede Schlagzeile recht: Nichts wäre schlimmer, als wenn das Event wie zwischen 1983 und 1996 ignoriert würde. Gerade die Bild-Zeitung, deren Recherchen zu den Privatleben der Grand-Prix-Künstler sattelfester ausfallen als zu Jürgen Trittin und Joschka Fischer, hat hier unschätzbare Verdienste im Namen der Quote: Jeder Skandal, das haben auch die öffentlich-rechtlichen Medien begriffen, ist besser als kein Skandal. Eine Strategie, die seit 1998 aufgeht. Damals provozierte das Millionenblatt die Nation mit der Kampagne: „Darf so einer für Deutschland singen?“ und stellte damit Guildo Horn zur Diskussion. Und wie man heute weiß, haben auch die schlecht gelaunten Worte aus früheren Jahrzehnten Künstlern wie Udo Jürgens, Katja Ebstein und Nicole nicht geschadet, im Gegenteil: Gegen die Feuilletons haben sie ihr Publikum (übrigens auch im Bereich von Konsumenten, die Abitur gemacht haben) gefunden.
Jürgen Meier-Beer, Fernsehunterhaltungschef beim NDR, hat, um aus dem Label „Grand Prix Eurovision“ ein Erfolgsmuster zu machen, die alten Regeln außer Kraft gesetzt: Nicht mehr die Verbände der Texter und Komponisten sollten in geheimer Auswahl die Teilnehmer für dieses deutsche Popfestival bestimmen, sondern die größten Plattenfirmen („Major Companies“) selbst – vor allem die Universal, Emi, BMG und Sony. Die wüssten am ehesten, was am Markt reüssieren kann. Erst nach diesem Verfahren erklärten sich Acts wie „Rosenstolz“ oder Stefan Raab überhaupt bereit, am deutschen Vorentscheid teilzunehmen und womöglich nicht zu gewinnen.
Das Versprechen des NDR an deren Adressen war klar formuliert: Selbst wenn ihr nicht gewinnt, haben wir euch in der Sendung so ins Bild gesetzt, dass ihr auf dieser Basis eure Karrieren weiter ausbauen könnt, sie jedenfalls nicht beschädigt. So geschehen im Falle der Berliner Band „Knorkator“ und der Hamburger Combo um Lotto King Karl im Vorjahr: Der Grand Prix hat ihnen volle Terminkalender beschert. Oder Stefan Raab, selbst jugendlich, als der Grand Prix Eurovision Mitte der Siebzigerjahre noch höchst populär war, hat mit seinem Auftritt voriges Jahr in Stockholm seine Bekanntheit enorm gesteigert – und damit seine Chancen als veritable Konkurrenz im Late-Nite-Kampf gegen Harald Schmidt anzutreten. Ganz nebenbei trieb sein Auftritt auch noch die Aktien der Produktionsfirma Brainpool, an der er Teilhaber ist, in die Höhe. Dass Wolf Maahn in diesem Jahr teilnimmt, hat nichts mit seiner gewandelten Mentalität zu tun, sondern damit, dass er einen neuen Plattenvertrag ergattern konnte. Der Grand Prix, so Maahn, sei seine einzige Chance, aus der Vergessenheit herauszukommen.
Etabliert hat sich nach dieser Methode ein Refrain der Selbstreferentialität: Der NDR begriff das Label „Grand Prix Eurovision“ nicht mehr als Hilfsmittel zur Rettung der deutschen Kulturnation, sondern als Idee, „eine neue deutsche Leitkultur ohne Ausschluss von Musikstilen“ (Jürgen Meier-Beer) zu zeigen; die Major Companies nutzen den Event als Trendscouting vor Millionenpublikum; die Boulevardmedien hatten endlich wieder Stoff, aus dem die Träume sind, also Erregungen und Empörungen um das pure Nichts – dieses Jahr gar gekrönt vom vergeblichen Vorsatz Thomas Gottschalks, als alter Knacker die guten alten Rock-’n’-Roll-Zeiten zu beschwören.
Für die ARD lohnt sich das Spektakel allemal. Gerade jetzt, da die so genannte Erste Reihe versäumt, selbst quotentaugliche Quizformate ins Programm zu heben, wird eine absolute Zuschauerzahl um sechs bis sieben Millionen Menschen – das entspricht einem Marktanteil von dreißig bis vierzig, zu Spitzenzeiten gar siebzig Prozent – der Vierteljahresbilanz gut tun. Seit 1998 ist der Grand Prix Eurovision, ob als nationale Vorauswahl oder zwei Monate darauf als internationale Sendung, die erfolgreichste ARD-Sendung im Zuschauerbereich der 14- bis 49-Jährigen, knapp dran an den Spitzensendungen der Konkurrenzkanäle wie „Wetten dass . . .“, nur getoppt von Fußballländerspielen, dem letzten Rennen der Formel 1 oder Skispringen mit Martin Schmitt.
Insofern, räumt Jürgen Meier-Beer ein, ist der NDR nicht daran interessiert, zuvörderst die Interessen der Texter und Komponisten zu bedienen, sondern die eigenen: Und dabei kommt es nicht auf die Güte des Gesangs oder die Präzision der Bühnenshow an, sondern auf die Attraktion der Interpreten selbst. Die Teilnahme eines Zlatko, geboren in einem Container im RTL-Dorf, wurde besonders begrüßt. Dass er nicht singen kann, ist für die Herren der Quote ungefähr so interessant wie die Kritik an einer Kuh, dass sie keine Ziege sei: Um die Fähigkeiten rund um Oktaven und Melodiebögen ging es in der Popmusik noch nie, sondern um die kaum präzise ergründbare Fähigkeit, mit einem Lied oder Sound Zustimmung zu wecken. Und da liegt der Mann mit Balkan-Aura, als geheimer Held aller proletarischen Multikultifreunde, ganz im Trend: Sein Song ist stadiontauglich.
Worte eines Udo Jürgens, der den renovierten Grand Prix als missratene Veranstaltung geißelte, müssen nicht ernst genommen werden: Bekennenderweise hat der Österreicher letztmals 1987 die Veranstaltung selbst am Fernseher verfolgt. Meier-Beer weist ohnehin jede ästhetische Verantwortung von sich: „Die Zuschauer haben es selbst in der Hand, wer in Kopenhagen Deutschland repräsentiert, wer seinen Nationalstolz verkörpert.“ Es gibt keine Favoriten, nur Mooshammer und Zlatko halten sich für unschlagbar. Aller Erfahrung nach straucheln solche Kandidaten als Erste.
Heute abend in der ARD, 20.15 Uhr
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