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To the roots

Lohnt es sich wirklich, mit vielen anderen auf vereisten Stufen einen Berg hinaufzuklettern, der der Legende nach schon von Moses erklommen wurde? Ist ein Sonnenaufgang von höchster Warte jede Mühe wert?

von CHRISTEL BURGHOFF

Manche Berge scheinen immer höher zu werden, je länger man unterwegs ist. Mehr als sechshundert Höhenmeter sind wir schon aufgestiegen, und das in dunkler Nacht. Ein Kraftakt. Jetzt stehen wir vor den Felsstufen zum Gipfel. Es sollen 685 sein. Aber die sind vereist. Soll man? Soll man nicht? Oben, auf 2.285 Meter Höhe, erwartet uns nicht einmal ein heißer Grog gegen die Kälte.

Alles, was vielleicht noch auf diesen Gipfel locken könnte, muss man sich ausdenken. Etwa das Erfolgserlebnis nach einem schweißtreibenden Aufstieg oder das Hochgefühl, auf biblischem Boden zu stehen, einmal den Berg der Berge bestiegen zu haben, von dem aus die abendländische Kulturgeschichte geprägt wurde. Vor 3.300 Jahren, zur Zeit des Pharaos Ramses II., soll Moses hier gewesen sein und von Gott zwei steinerne Tafeln mit den Zehn Geboten erhalten haben. Moses ist das Findelkind, das in einem Weidenkörbchen auf dem Nil dahertrieb, er ist der Putschist und erfolgreiche Freiheitskämpfer, der versklavte Hebräer aus Ägypten herausführte. Die Bibel hat ihm eine romantische Lebensgeschichte gewidmet. Auf dem Berg Horeb der Wüste Sinai reifte er zum Glaubensvater der großen monotheistischen Religionen.

Zweifellos setzen Phantasien Menschen in Bewegung. Der Stau an den Stufen löst sich auf, auch die russische Touristin mit den Schläppchen an den nackten Füßen hält sich weiter tapfer vor mir. Man stolpert mehr, als dass man steigt. Auf dem Rückweg wird sich der lange Zug der Pilger wie eine Seilschaft an den Händen halten und sich vereint über die Stufen hinabhelfen.

Wir, eine Busladung durchschnittlicher Touristen, haben unsere bequemen Betten im luxuriösen Hotel einmal Betten sein lassen und schlagen uns stattdessen die Nacht um die Ohren. Auf unbekanntem Gelände wurden wir abgesetzt. „Gehen Sie, wenn Sie auf das Kloster treffen, links vorbei; wenn sich die Wege gabeln, dann halten Sie sich auf dem breiten Weg, morgens um neun Uhr treffen wir uns alle am Kloster wieder“, so der Reiseführer.

Das Kloster heißt Katharinenkloster und steht an jener Stelle, an der Moses sein erstes Erlebnis mit dem Übersinnlichen, einem brennenden Dornbusch hatte. Kurz wurde uns ein Bergführer vorgestellt, der sich dann in der Menge verlor. Kein Problem, denn Verlaufen sei ohnehin nicht möglich, hatte der Reiseleiter noch gesagt. Eine russische Gruppe drängte bereits an uns vorbei, machte Tempo im unebenen Gelände. Gleich dahinter noch mehr neue Gruppen. Und noch mehr Gedränge, weil sich zwischen den Wandernden immer wieder Beduinen und ihre Dromedare einen Weg bahnten. Die Menschenschlange vor uns war beeindruckend, am Blinken der Taschenlampen sah man, dass sie sich langsam am Berg höherwand. Irgendwo ein Gipfel, versteckt in einer dunklen Wolke.

In gut zwei Stunden kann man oben sein, sagt man. Aber das sagt man so daher, so leicht und selbstverständlich wie bei einer Einladung zum Bootsausflug oder zum Schnorcheln. Alles Urlaubsvergnügen, die zum Standardprogramm eines Badeaufenthaltes am Roten Meer gehören wie auch dieser „Nachtaufstieg zum Mosesberg & Besichtigung des Katharinenklosters“.

Aber der ist kein Verwöhnprogramm, da geht es ganz wörtlich zurück, zurück in die Wüste, wo die Geschichte anfing, zurück zur Natur und auf den Berg, und das ist anstrengend. Und es hat den merkwürdigen Effekt, aus verwöhnten Touristen eine anachronistische, sich dahinschleppende Pilgerschar zu machen, die vielleicht den Fachleuten Recht gibt, die immer schon behauptet haben: Pilgertum und Tourismus sind im Grunde dasselbe. Wir alle auf der Suche nach dem einen, dem erhebenden Kick.

Immerhin steigen seit mindestens 1.500 Jahren Pilger auf diesen Berg, sie zelebrieren eine Besinnungsstunde oder verfallen in kollektives Beten, wie es diese modernen Pilger bei Sonnenaufgang tun. Oder sie tanzen und singen wie die farbigen US-Amerikaner, die schon auf halber Höhe einen Kreis für eine Session gebildet haben, matt beleuchtet von die Lampen eines Beduinenkiosks, der den Weg säumt. Mitten im Gebirge ein pittoresker Anblick.

Bis zu zweitausend Menschen sollen heutzutage in manchen Nächten aufsteigen, berichten die Beduinen. Dann wird es sehr eng auf dem Plateau. An der Gipfelkapelle, an der sich heute nur zweihundert Menschen bequem verteilen, kämpft man dann um die besten Fotoplätze. Und nicht immer geht der Aufstieg gut aus. Zwei Todesfälle wurden bekannt, ein Mann stürzte ab, ein anderer erlag einem Herzanfall. Wer rechtzeitig merkt, dass die Kraft nicht ausreicht, kann sich ein Dromedar mieten, Einheitspreis zehn Dollar. Für die Beduinen ein sicheres Geschäft.

Nur wenige der Wanderer sind in der letzten Hütte am Fuße der Stufen zurückgeblieben. Der ältere Grauhaarige wirkt schlaff, eine der russischen Touristinnen fixiert ihre Fußspitzen, zwei Damen aus dem Hilton von Scharm al Scheich plaudern angeregt und meinen lapidar: „Da muss man ja nicht hoch – die Wolke zieht sowieso nicht mehr ab.“ Es gibt Teebeuteltee aus dem Plastikbecher. Scheußlich der Geschmack, aber die Wärme tut gut. Auch hier ist es zugig, die Hütte, die sich Kiosk nennt, ist eine Bretterbude, groß genug, um sich auszuruhen. Die älteren Kamelführer haben sich in Decken gerollt und schlafen, die jüngeren Beduinen albern herum und fragen nach, ob es in Deutschland auch so kalt ist. Die Auskunft, deutsche Winter seien schlimmer, beruhigt sie keineswegs.

Noch ist es dunkel, als wir ins Freie gehen. Mohammed, der jüngste unter ihnen, klettert voraus zum Steilhang in Richtung Osten. Vielleicht haben wir Glück und erwischen durch Wolken hindurch einen Blick auf den morgendlichen Himmel. An dem Feuerchen, das die Jugendlichen aus trockenem Gesträuch machen, wärmen wir uns die Hände, stark aromatisierter Rauch steigt auf und vermischt sich mit dem Dunst. Dann zeigen sich am Horizont zart die Silhouetten von Bergen, sie bilden Linien, gewinnen Form gegen den Himmel, der sich sacht einfärbt. Nur unterbrochen von Wolkenfetzen entsteht vor uns eine der großartigsten Wüstenlandschaften, die Landschaftsenthusiasten kennen, gebirgig, zerklüftet, karg, leer und weit. Der Feuerball, der sich dahinter erhebt, verleiht ihr allmählich die warmen, archaischen Sandfarben der Wüste. Ein sonniger und heißer Tag kündigt sich an. Moses hin, Moses her – Sonnenaufgänge können sehr schön sein, wenn man auf einem hohen Berg steht.

CHRISTEL BURGHOFF hat mit der taz-Reiseredakteurin Edith Kresta das Buch „Schöne Ferien. Tourismus zwischen Biotop und künstlichen Paradiesen“ (C. H. Beck, München 1998, 140 Seiten, 17,80 Mark) verfasst

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